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Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)

Titel: Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Harbort
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nich’. Die hat gar nich’ aufgemuckt.
    Es hatte ihn schon damals irritiert. Erst als sie verzweifelt versucht hatte, sich seinem tödlichen Würgegriff zu entwinden, war er richtig in Fahrt gekommen. Jetzt wollte er davon nichts mehr wissen. Er sah in ihr Gesicht: der halb geöffnete Mund, die gebrochenen Augen. Sie starrten ihn an. Unablässig. Unbarmherzig. Ihm war zum Heulen zumute. Aber das ging nicht. Sein Vater hatte es ihm strikt verboten. Ein ganzer Kerl flennt doch nicht! Obwohl sein Vater bereits vor drei Jahren gestorben war, galt das einmal Gesagte für ihn noch immer.
    Es waren noch knapp zwei Stunden, die Beisetzung sollte um 10 Uhr auf dem Friedhof in Alt-Walsum stattfinden. Er zögerte. Es zog ihn mit Macht dorthin, aber sein Instinkt riet ihm, es nicht zu tun. Doch er wusste, dass er sich würde entscheiden müssen. Bald.
    Horst Kuhnert hatte die Besprechung beendet. Jetzt wusste jeder, was zu tun war. Um 9.30 Uhr sollten die Positionen eingenommen werden. Insgesamt 25 Beamte waren jetzt im Einsatz. Kuhnert hatte ein engmaschiges Fahndungsnetz gesponnen.
    Der Friedhof in Alt-Walsum, dem nördlichsten Ortsteil der Stadt, konnte nahezu problemlos überwacht werden. Das Friedhofsgelände lag an der Peripherie Walsums, 800 Meter weiter südlich machte der Rhein eine Flucht unmöglich. Auch ein Entweichen in Richtung Westen war nahezu ausgeschlossen, der Walsumer Nordhafen stellte ein kaum zu überwindendes Hindernis dar. Leicht zu kontrollieren war ebenfalls der Bahndamm, der das Gelände in nördlicher Richtung begrenzte. Nur die unwegsamen Wald- und Sumpfgebiete der Rheinauen östlich des Friedhofs boten reichlich Möglichkeiten zum Unterschlupf.
    Würde der Mörder erscheinen und sich verdächtig machen, es gäbe kein Entrinnen. Sollte ihm auf dem Friedhofsgelände wider Erwarten doch die Flucht glücken, würde er der »äußeren Absperrung« in die Hände laufen. Und die Fahnder dort konnten notfalls zwei Diensthunde von der Leine lassen. Auch das Wetter stimmte die Beamten optimistisch: 22 Grad, leichter Wind aus Südost, kaum Wolken am Himmel. Die Falle war gestellt.
    Er war aufgestanden und stützte sich mit beiden Händen auf dem Spülstein ab. Mühsam baute er sich vor dem kleinen Spiegel auf. Sein Konterfei hatte ihm noch nie sonderlich behagt: die hohe Stirn; die wenigen dunkelbraunen, dünnen Haare; die tief liegenden, großen, ausdruckslosen braunen Augen; der lauernde, stechende Blick; die deutlich abstehenden, großen Ohren; die spitz zulaufende Nase; die scharfen, rechts und links der Nase senkrecht nach unten verlaufenden Falten; die schmalen Lippen; die gelbliche Gesichtsfarbe. Daran konnte er sich nicht erfreuen.
    Die Verunsicherung, die langsam, aber unaufhaltsam von ihm Besitz ergriff, machte ihm zu schaffen. Denn er hatte sich mittlerweile entschieden, er wollte hingehen. Aber er war vollkommen unschlüssig, was er auf dem Friedhof anstellen, wie er sich dort verhalten sollte. Und er fürchtete sich vor den Blicken der Mutter des Mädchens und des Vaters und der Geschwister und der Verwandten und der Freundinnen. Als er darüber nachdachte, wurde es ihm zu viel. Er musste sich hinsetzen.
    Noch konnte er von seinem Entschluss zurücktreten. Aber dann würde es so sein wie immer, und er glaubte fest daran, eine Mission erfüllen zu müssen . Ein Zeichen wollte er setzen, das niemand sehen, das niemand hören, das niemand verstehen würde; eine Botschaft, die ihren Adressaten niemals erreichen konnte. Aber das war ihm egal. Es ging ja nicht anders. Und er hoffte darauf, endlich etwas loszuwerden.
    Er nahm sich fest vor, die Beerdigung aus der Ferne zu beobachten, er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Mach keinen Quatsch! bläute er sich ein. Denn sein größtes Problem war, dass er sich selbst nicht trauen konnte. Er war ein Taugenichts, ein Versager, ein Niemand – ein kleiner Malocher ohne Qualifikationen und Qualitäten. Und jemand wie er wäre nicht imstande, ernsthaften Widerstand zu leisten, würde etwas schief gehen. Er wäre überfordert, seine Nerven würden ihm durchgehen. Wie immer. Er hatte zwar keine konkrete Vorstellung, aber ein ungutes Gefühl und obendrein reichlich Erfahrung darin, wie sich so ein Desaster anfühlt.
    Er trank nur einen Bohnenkaffee mit Milch und Zucker und aß nichts. Er hätte keinen Bissen herunterbekommen, die Anspannung war zu groß. Er schaute auf die Uhr. 9.20 Uhr. Es wurde höchste Zeit, wenn er noch zum Friedhof wollte.
    Acht

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