Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Das führende Fachjournal Kriminalistik forderte gar in seiner Januarausgabe des Jahres 1965: »Diese Erfahrungstatsache muß der Kriminalist in den Bereich seiner Ermittlungstätigkeit einbeziehen. Es ist zu fragen, wie er das tut und welche Möglichkeiten sich ihm hier bieten. Unauffällige, überraschende Lichtbildaufnahmen! Feststellung der Personalien der Anwesenden! Beobachtung der Anwesenden durch besonders geeignete Beamte! Wer drückt sich vom Tatort bei Lichtbildaufnahmen oder bei der Feststellung der Personalien u. ä.?«
Horst Kuhnert war seit 12 Jahren Chef der Mordkommission im Essener Polizeipräsidium. Der zweifache Familienvater saß allein im Zimmer 211, seinem Büro, die abschließende Besprechung mit den Kollegen hatte anderthalb Stunden gedauert. Es war spät geworden, wie immer. Seit knapp zwei Wochen verfolgten sie Spur um Spur, auch an den Wochenenden. Aber ein Ende war nicht in Sicht.
Er hätte wie die anderen nach Hause gehen können, zu seiner Frau, seinen Söhnen. Aber unentwegt musste er an die beiden Mädchen denken und wie sie umgekommen waren und an die Eltern der Opfer. Er spürte die Verantwortung, die bleischwer auf ihm lastete. Und die fortwährende Erfolglosigkeit begann an seinem sonst ausgeprägten Selbstbewusstsein zu nagen. Habe ich auch nichts übersehen? Könnte ich nicht vielleicht doch etwas überlesen haben? Habe ich meinen Kollegen auch immer aufmerksam zugehört?
Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, in solch prekären Situationen das gesamte Aktenmaterial nochmals auszuwerten. Vor ihm auf dem Tisch lag jetzt der Ordner mit den Vernehmungsprotokollen der Verdächtigen im Walsumer Fall. Er setzte seine Lesebrille auf und drehte an der Tischlampe. Er brauchte mehr Licht. Als er beiläufig die Beschriftung des Aktendeckels studierte, stutzte er. Monika Reimer. Moment mal. Morgen ist doch die Beerdigung.
Mehrere Tage lang hatte er das Kornfeld, aber auch die nähere Umgebung des Leichenfundortes von Kriminalbeamten in Zivil observieren lassen. Der Mörder war nicht gekommen. Oder er war nicht kontrolliert worden. Dann hatte er die Aktion abgeblasen.
Monika wird morgen beerdigt. Plötzlich erinnerte er sich wieder. Jetzt fiel ihm ein, was ihm Stunden zuvor nicht in den Sinn gekommen war. Er hatte Monate zuvor in mehreren älteren Fachaufsätzen einen spektakulären Fall recherchiert, und von dem Mörder waren merkwürdige Verhaltensweisen berichtet worden. Kürten. Peter Kürten. Er war sich mit einem Mal sehr sicher, über die grauenvolle Mordserie Ende der zwanziger Jahre in Düsseldorf gelesen zu haben. Ein Psychiater und ein Kriminalbeamter hatten über den Fall und ihre Erfahrungen mit dem Serienmörder berichtet.
Er stand auf und öffnete einen Schrank. Es dauerte nicht lange, bis er fündig wurde. Kriminalistische Monatshefte. Jahrgang 1930. Das müsste es sein . Er nahm den Band heraus, legte ihn auf den Schreibtisch und begann zu blättern. Volltreffer! Ungeduldig begann er zu lesen. Wenig später stieß er auf die entscheidenden Passagen: »Es scheint sogar die Regel gewesen zu sein, daß er durch Aufsuchen der Tatorte neuen sexuellen Reiz zu gewinnen trachtete: ›Die Überfallstelle der Frau Kühn habe ich am selben Abend noch zweimal und später auch noch öfters aufgesucht; dabei hatte ich auch schon mal Samenerguß. Als ich die Leiche des Kindes Ohliger morgens mit Petroleum begoß und anzündete, erfolgte beim hellen Schein Samenerguß. Diesen Tatort habe ich denselben Morgen um 8.30 Uhr und 9.30 Uhr wieder aufgesucht und in der Folgezeit noch häufig.‹«
Es kam noch besser: »Wenn man ihn aber frei darüber reden läßt, dann berichtet er selber über seine sadistischen Erregungen: ›Ich bin immer wieder an die Gräber der Opfer gegangen, bin wiederholt nach Mülheim gefahren an das Grab der Klein und auf den Stoffeler Friedhof. Wenn ich so mit den Händen die Graberde betastete, ist es manchmal auch zu einer sexuellen Erregung gekommen, wenn ich mir die Vorgänge so vergegenwärtige. Bei der Grabstätte der Hahn konnte ich mich stundenlang aufhalten. Wenn es an den Gräbern zum Samenerguß kam, dann war’s ohne mein Zutun.‹«
Das reichte, er hatte genug gelesen. Horst Kuhnert war keineswegs überzeugt, dass es klappen würde. Aber einen Versuch war es wert. Er nahm den Hörer ab und begann zu telefonieren.
21
Es war kurz nach sechs, als er aufwachte. Er
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