Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Analphabet und ohne Schulabschluss, hoffen, in dieser Großstadt, die bereits von Arbeitslosen überschwemmt war, eine Arbeit zu finden, die ihn und seine Familie ernährte? Andere Dorfbewohner vor ihm hatten ihr Glück in der Hauptstadt versucht und sich unüberwindlichen Problemen gegenübergesehen. Manche sahen sich gezwungen, ihre Frauen und Kinder zum Betteln auf die Plätze der Stadt zu schicken. Nachdem mein Vater überall herumgefragt hatte, ergatterte er schließlich einen Job als Straßenkehrer bei der Stadtverwaltung. Das Geld reichte jedoch kaum für die Miete. Sobald er damit in Verzug geriet, fuhr der Vermieter ihn wütend an.
Omma
weinte dann. Doch niemand konnte ihren Schmerz besänftigen.
Als Fares, der Viertälteste der Familie, zwölf war, kam er ständig mit irgendwelchen für dieses Alter typischen Wünschen an. Jeden Tag verlangte er Geld, um sich Bonbons, modische Hosen und neue Schuhe zu kaufen, wie man sie auf den Werbeplakaten sieht. Schöne, nagelneue Schuhe, die mehr kosteten, als
Aba
in einem Monat verdiente! In seiner fröhlichen, unbesonnenen Art verlangte er immer mehr. Es kam sogar vor, dass er meinen Eltern drohte, von zu Hause abzuhauen, sollten sie seinen Launen nicht nachgeben. Trotz seiner Großspurigkeit war er mein Lieblingsbruder. Er schlug mich wenigstens nicht, ganz im Gegensatz zu Mohammad, meinem ältesten Bruder, der sich für das Oberhaupt der Familie hielt. Ich bewunderte Fares’ Ehrgeiz, seine ungestüme Art, allen die Stirn zu bieten, ohne sich darum zu scheren, wie seine Umgebung darauf reagierte. Er traf Entscheidungen und stand dazu, auch auf die Gefahr hin, sich die ganze Familie zum Feind zu machen. Eines Tages, nach einem Streit mit meinem Vater, machte er seine Drohung wahr: Er ging endgültig von zu Hause weg, und wir dachten, wir würden ihn nie wiedersehen.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich
Aba
weinen. Um seinen Kummer zu vergessen, verschwand er oft stundenlang und ging mit alten Bekannten
kath
kauen. Schließlich verlor er seine Arbeit.
Omma
wurde indessen zunehmend von Alpträumen geplagt. Wir Geschwister schliefen mit ihr zusammen im größten Raum der Wohnung auf Matratzen, die direkt auf dem Boden lagen, und ich wurde öfters mitten in der Nacht von ihrem Gejammer wach. Die Arme litt sichtlich.
Fares hatte nur eine einzige Spur hinterlassen: ein farbiges Passfoto, das Mohammad sorgsam in seiner Brieftasche aufbewahrte. Das Foto zeigte Fares, wie wir ihn kannten: In aufrechter Kopfhaltung, mit einem weißen Turban auf seinen braunen Locken – damit wollte er sicher erwachsener wirken – fixierte er mit übermütigem, vor Spottlust sprühendem Blick die Kamera.
Und dann, zwei Jahre nach seiner Flucht, dieser unerwartete Anruf, das erste Lebenszeichen:
»Saudi-Arabien … Alles bestens … Hirte … Ich arbeite als Hirte … Macht euch keine Sorgen um mich …«, konnte man am anderen Ende der Leitung vernehmen.
Er hatte inzwischen den Stimmbruch gehabt. Aber ich habe seine Stimme sofort erkannt. Er schien noch selbstsicherer geworden zu sein. Dann knackte es plötzlich in der Leitung, und das Gespräch war weg. Wie hatte Fares es geschafft, so weit von zu Hause wegzukommen? Wo war er genau, in welcher Stadt? War es ihm gelungen, ein Flugzeug zu nehmen, abzuheben und die Wolken zu durchbrechen? Wo genau lag eigentlich Saudi-Arabien? War dort, wo er war, das Meer? Die Fragen schwirrten mir nur so durch den Kopf. Als ich einmal in ein Gespräch zwischen meinen Eltern und Mohammad platzte, glaubte ich zu verstehen, dass Fares Opfer eines
Kinderhändlers
geworden sei. Das scheint im Jemen recht häufig vorzukommen. Hieß das, dass er Adoptiveltern gefunden hatte? Vielleicht war er alles in allem glücklich und konnte sich endlich seine heißersehnten Bonbons und Bluejeans kaufen. Ich jedenfalls vermisste ihn schrecklich. Um mich über seine Abwesenheit hinwegzutrösten, schloss ich mich in meiner Traumwelt ein. In Träumen von Wasser! Nicht von Flüssen, sondern vom Meer. Schon immer wollte ich wie eine Schildkröte meinen Kopf ins Wasser tauchen. Ich habe das Meer noch nie gesehen. Mit meinen Buntstiften zeichnete ich Wellen in mein kleines Heft. Ich stellte sie mir grün und blau vor.
»Sie sind blau!«, korrigierte mich eines Tages Malak, während sie einen Blick über meine Schulter warf.
Malak und ich waren unzertrennlich geworden. Ich hatte sie in der Schule des Al-Qa-Viertels kennengelernt, nachdem meine Eltern endlich
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