Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
sie bedeutete jede Schwangerschaft eine Lebensgefahr. Mangels ärztlicher Versorgung verlor sie zudem eines ihrer Babys bei der Geburt. Vier weitere Brüder und Schwestern, die ich nicht gekannt habe, starben ohne jegliche ärztliche Hilfe an unheilbaren Krankheiten. Alle waren zwischen zwei Monaten und vier Jahren alt.
Wie ihre anderen Sprösslinge brachte sie mich zu Hause auf die Welt, ausgestreckt auf einer geflochtenen Matte, schweißgebadet die Qualen erduldend und zu Allah betend, er möge ihr Neugeborenes schützen.
»Du hast lange gebraucht, bis du kamst. Die Wehen begannen mitten in der Nacht, gegen zwei Uhr morgens. Und die Entbindung dauerte einen guten halben Tag, im Hochsommer, bei Gluthitze. Es war ein Freitag, der wöchentliche Feiertag«, so erzählt sie mir von Zeit zu Zeit, um meine Neugier zu stillen.
Aber wäre ich an einem Wochentag zur Welt gekommen, so hätte das nicht viel geändert. Für
Omma
hatte sich die Frage, im Krankenhaus zu entbinden, nie gestellt. Unser Dorf, eingezwängt an der engsten Stelle des Tals, lag viel zu weit entfernt von jeder medizinischen Einrichtung. Es bestand aus höchstens fünf Steinhäusern und besaß weder ein Rathaus noch ein Lebensmittelgeschäft, weder eine Autowerkstatt noch einen Barbier und noch nicht einmal eine Moschee! Man konnte nur auf dem Rücken eines Maulesels dorthin gelangen.
Nur eine Handvoll waghalsiger Pick-up-Fahrer, sofern sie stabile Reifen hatten, trauten sich, den holprigen Weg an der Schlucht entlang zu befahren, aber wegen der schlechten Straße mussten sie alle zwei Monate ihre Reifen auswechseln. Man stelle sich also vor, wie stark die Wehen meiner Mutter hätten sein müssen, wenn sie sich dazu entschieden hätte, sich in die Obhut eines Krankenhauses zu begeben. Womöglich hätte sie mitten auf der Straße entbunden!
Omma
sagt, selbst mobile Krankenhäuser hätten es niemals riskiert, Khardji anzusteuern!
»Aber wer hat dann zu Hause die Krankenschwester gespielt?«, frage ich gelegentlich beharrlich, wenn
Omma,
erschöpft von meinen Fragen, vergisst, mir das Ende der Geschichte zu erzählen, wie ich auf die Welt gekommen bin.
»Nun ja, zum Glück war deine große Schwester Jamila da! Wie jedes Mal half sie mir, die Nabelschnur mit einem Küchenmesser durchzutrennen. Dann hat sie dich gebadet und dich anschließend in ein Tuch gewickelt. Dein Großvater
Jad
hat dann beschlossen, dich Nojoud zu nennen. Man sagt, das sei ein Beduinenname.«
»
Omma
, bin ich im Juni oder im Juli geboren? Oder vielleicht mitten im August?«
Meistens beginnt
Omma
in diesem Moment, sich zu ärgern.
»Nojoud, wann hörst du endlich auf, all diese Fragen zu stellen?«, sagt sie dann jedes Mal, um meiner Fragerei Einhalt zu gebieten.
In Wirklichkeit tut sie das, weil sie nicht die geringste Ahnung hat. Weder mein Vorname noch mein Familienname erscheinen in den offiziellen Registern. In der Provinz setzt man haufenweise Kinder in die Welt, ohne eine Geburtsurkunde auszustellen. Mein Geburtsjahr weiß kein Mensch. Meine Mutter nimmt an, dass ich ungefähr zehn sein müsste. Aber es kann gut sein, dass ich erst acht oder neun bin … Wenn ich hartnäckig genug nachfrage, kommt es vor, dass sie überlegt und versucht, die Reihenfolge der Geburt ihrer Kinder auszuklügeln, indem sie sich an den Jahreszeiten, den Todestagen unserer Ahnen, den Hochzeiten bestimmter Cousins oder unseren Umzügen orientiert. Echte Gehirnakrobatik!
Aufgrund von Berechnungen, die weitaus komplizierter sind als die des Lebensmittelhändlers, kommt sie schließlich jedes Mal zu dem Schluss, dass Jamila die Älteste ist, gefolgt von Mohammad, dem ältesten Jungen und »zweiten Mann« im Haus – der die Befugnis hat, Entscheidungen zu treffen, gleich nach meinem Vater. Danach folgen Mona, die Rätselhafte, und Fares, der Hitzkopf. Dann komme ich, gefolgt von meiner Lieblingsschwester Haïfa, die fast so groß ist wie ich. Schließlich Abdo, Morad und die Jüngste, Rawdha, mit ihrem Kraushaar. Dowla, meine »Tante« und zweite Frau meines Vaters, die eigentlich eine entfernte Cousine von ihm ist, hat fünf Kinder.
»
Omma
ist eine richtige Glucke!«, spottet Mona oft, wenn sie meine Mutter aufziehen will. Ich erinnere mich, dass ich mehrere Male morgens aufgewacht bin und in ihrem Bett ein Neugeborenes entdeckt habe, das sie liebevoll in den Armen wiegte! Sie wird nie damit aufhören.
Omma
kann sich jedoch erinnern, dass sie eines Tages Besuch von der Vertreterin
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