Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
eingewilligt hatten, mich dort einzuschreiben. Während der Pause spielten wir häufig mit Murmeln. Von den siebzig Schülern, allesamt Mädchen, die sich in der Klasse drängten, war sie mit Abstand meine beste Freundin. Ich hatte mein erstes Schuljahr erfolgreich abgeschlossen und eben das zweite begonnen. Morgens kam Malak mich abholen, und wir gingen zusammen in die Schule.
»Woher willst du das wissen?«, entgegnete ich.
»In den Ferien fahre ich mit meinen Eltern immer nach Hodeida. Da kann man das Meer sehen.«
»Wie schmeckt es denn?«
»Salzig!«
»Und ist der Sand auch blau?«
»Nein, der ist gelb! Und so weich, wenn du wüsstest …«
»Und was findet man alles im Meer?«
»Boote, Fische und Leute, die baden …«
Malak erzählte mir, dass sie dort schwimmen gelernt habe. Da ich noch nie ein Schwimmbad betreten hatte, fand ich das faszinierend. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte einfach nicht verstehen, wie es ihr gelang, auf der Wasseroberfläche zu bleiben, ohne unterzugehen. Ich erinnerte mich nur, dass
Omma
in Khardji immer mit mir schimpfte, wenn ich zu nahe an den Fluss ging, und mich warnte:
»Vorsicht! Wenn du reinfällst, gehst du unter!«
Malak sagte, ihre Mutter hätte ihr einen hübschen bunten Badeanzug gekauft. Und dass sie sogar Sandburgen bauen könne, mit Türmen und breiten Treppen, die danach unter den Wellen verschwänden. Eines Tages stülpte sie eine große Muschel auf mein Ohr, die sie aus Hodeida mitgebracht hatte.
»Hörst du das Meer rauschen?«
»Ja, die Wellen, ich höre die Wellen. Das ist ja unglaublich!«, rief ich begeistert.
Wasser, das war für mich vor allem der Regen, der heute im Jemen immer seltener fällt. Manchmal wurden wir mitten im Sommer von Hagel überrascht. War das eine Freude! Mit meinen Brüdern und Schwestern stürmte ich auf die Straße und sammelte die kleinen Eiswürfel in einer großen Schüssel auf. Ich zählte sie stolz, denn in der Schule hatte ich gelernt, von eins bis hundert zu zählen. Wenn die Hagelkörner geschmolzen waren, machten wir uns einen Spaß daraus, uns mit dem Eiswasser zu bespritzen. Das war sehr erfrischend. Mona, die seit unserem Umzug nach Sanaa meistens vor sich hin schmollte, schloss sich uns zuweilen sogar an. Nach unserer überstürzten Abreise von Khardji war sie zwei Monate später mit ihrem Mann, den sie von heute auf morgen geheiratet hatte, nach Sanaa nachgekommen.
Im Laufe der Jahre fand Mona allmählich ihr natürliches Lächeln, ihre spöttische Miene und ihren Sinn für schwarzen Humor wieder, der
Omma
oft irritierte. Sie brachte zwei hübsche Babys zur Welt, Monira und Nasser, und genoss ihr Mutterglück. Unsere Familie und die Familie ihres Mannes kamen sich schließlich sogar näher. Um die Familienbande noch zu verstärken, wurde beschlossen, meinen großen Bruder Mohammad mit einer der Schwestern meines Schwagers nach der Tradition des
sighar
zu verheiraten.
Doch das alles war zu schön, um von Dauer zu sein. Eines Tages verschwand Monas Mann von der Bildfläche und mit ihm meine große Schwester Jamila. Waren sie wie Fares geflohen, in der Hoffnung, ebenfalls in Saudi-Arabien reich zu werden und uns vielleicht elektronisches Spielzeug mitzubringen? Oder einen Fernseher mit bewegten Bildern in Farbe? Im Zimmer der Eltern wurde zunehmend über sie getuschelt. Doch es war den Kindern streng verboten, Fragen zu stellen. Ich erinnere mich nur, dass Mona nach ihrem Verschwinden von neuem unter Stimmungsschwankungen litt. Meistens war sie traurig und melancholisch, doch plötzlich konnte es vorkommen, dass sie in Gelächter ausbrach, was ihre natürliche Schönheit wiederaufleben ließ und ihre großen braunen Augen und ihre feinen Gesichtszüge zur Geltung brachte. Mona hatte viel Charme.
Zu mir war sie immer besonders liebevoll, an guten wie an schlechten Tagen. Irgendwie mütterlich und fürsorglich. Es kam sogar vor, dass sie mich zum Schaufensterbummel auf die Hayle Avenue mitnahm, die für ihre Kleiderboutiquen bekannt war. Das Gesicht an die Scheibe gedrückt, warf ich begehrliche Blicke auf die Abendkleider mit Pailletten, die roten Röcke, die Blusen aus roter, blauer, violetter, gelber und grüner Seide. Ich stellte mir vor, wie ich mich in eine Prinzessin verwandelte. Es gab sogar Hochzeitskleider, die Filmkostümen oder Zaubergewändern für Feen ähnelten. Das war schön. Da konnte man ganz neidisch werden.
Als ich eines Abends, es war im Februar 2008, nach Hause kam,
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