Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
wie viel ich wiege! Wenn die wüssten, was mich hierhergeführt hat.
Hilflos hebe ich den Kopf und schaue wieder in die Gesichter der vielen Erwachsenen, die um mich herumwirbeln. Mit ihren langen Schleiern sehen alle Frauen gleich aus. Wie schwarze Schatten, eher furchterregend als verführerisch. Auf was habe ich mich da nur eingelassen? Na so was, da drüben, der Mann im weißen Hemd und schwarzen Anzug, der kommt jetzt auf mich zu. Vielleicht ein Richter … oder ein Rechtsanwalt? Los, jetzt muss ich mich nur trauen, ihn anzusprechen.
»Entschuldigung, ich möchte zum Richter!«
»Zum Richter? Da lang, die Treppe hoch«, antwortet er, ohne mich richtig anzusehen, und verschwindet danach sofort wieder in der Menge.
Ich habe keine andere Wahl mehr. Ich muss ihr die Stirn bieten, dieser Treppe, die sich nun direkt vor mir befindet. Das ist meine einzige und letzte Chance, aus alldem herauszukommen. Ich fühle mich schmutzig. Ich muss diese Stufen emporsteigen, eine nach der anderen, um meine Geschichte zu erzählen, muss diese Woge von Menschen durchqueren, die sich immer mehr auftürmt, je näher ich der großen Eingangshalle komme. Fast wäre ich hingefallen. Ich richte mich wieder auf. Meine Augen sind trocken vom vielen Weinen. Ich kann nicht mehr. Meine Füße sind schwer wie Blei, als ich sie endlich auf dem Marmorboden der großen Eingangshalle aufsetze. Ich darf nicht die Fassung verlieren. Nicht jetzt.
Auf den Wänden, die weiß glänzen wie in einem Krankenhaus, erkenne ich Hinweise in arabischer Schrift. Sosehr ich mich auch anstrenge, es gelingt mir nicht, sie zu lesen. Man hat mich dazu gezwungen, die Schule im zweiten Schuljahr abzubrechen, kurz bevor sich mein Leben in einen Albtraum verwandelte, und außer meinem Vornamen Nojoud kann ich kaum etwas schreiben. Mein Blick fällt schließlich auf eine Gruppe Männer in olivgrüner Uniform und mit tief in die Stirn gezogenen Schirmmützen. Das sind sicher Polizisten. Oder vielleicht Soldaten? Einer von ihnen hat eine Kalaschnikow quer umgehängt.
Mir läuft es eiskalt über den Rücken. Wenn sie mich sehen, verhaften sie mich womöglich. Ein kleines Mädchen, das von zu Hause wegläuft, das gehört sich nicht. In meiner Angst hänge ich mich unauffällig an den ersten Schleier, der an mir vorbeikommt, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Unbekannten, die sich dahinter versteckt, auf mich zu lenken. »Los! Nojoud!«, befiehlt mir meine zaghafte innere Stimme. »Du bist zwar ein Mädchen. Aber du bist auch eine Frau! Eine echte, auch wenn es dir noch schwerfällt, das zu akzeptieren!«
»Ich möchte mit dem Richter sprechen!«
Zwei große, schwarz eingerahmte Augen mustern mich erstaunt. Die Dame, die mir gegenübersteht, hat mich erst jetzt bemerkt.
»Wie bitte?«
»Ich möchte mit dem Richter sprechen!«
Will sie mich absichtlich nicht verstehen, damit sie mich schneller loswird, so wie die anderen?
»Welchen Richter suchst du denn?«
»Ich möchte einfach nur mit einem Richter sprechen!«
»Aber es gibt viele Richter an diesem Gericht …«
»Nehmen Sie mich zu einem Richter mit, egal, zu welchem!«
Sie schweigt, erstaunt über meine Entschlossenheit. Vielleicht hat sie auch mein kleiner durchdringender Schrei sprachlos gemacht.
Ich bin ein Mädchen vom Land, das in der Hauptstadt lebt. Ich habe mich immer den Befehlen der Männer aus der Familie gebeugt. Seit jeher habe ich gelernt, zu allem »ja« zu sagen. Heute habe ich beschlossen, »nein« zu sagen. Ich fühle mich innerlich beschmutzt. Es ist, als hätte man einen Teil von mir geraubt. Niemand hat das Recht, mich davon abzuhalten, bei der Justiz vorzusprechen. Es ist meine letzte Chance, aus alldem herauszukommen. Ich werde nicht einfach aufgeben. Und dieser erstaunte Blick, so kalt wie der Marmor in der großen Halle, in der das Echo meines Schreis seltsam widerhallte, wird mich nicht zum Schweigen bringen.
Mittag ist nun längst vorbei. Seit über drei Stunden irre ich jetzt schon verzweifelt durch das Labyrinth dieses Gerichts. Ich will mit dem Richter sprechen!
»Komm mit!«, sagt sie und gibt mir durch ein Zeichen zu verstehen, dass ich ihr folgen soll.
Die Tür öffnet sich zu einem mit braunem Teppichboden ausgelegten Raum, der die Geräusche dämpft. An einem Schreibtisch im Hintergrund gibt sich ein Schnauzbärtiger mit feinen Gesichtszügen redliche Mühe, die Flut der Fragen zu beantworten, die von allen Seiten auf ihn hereinbricht. Das ist der Richter.
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