Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Kraft gegeben. Ich habe im April 2012 Melanie Nickolmann gebeten, in meinem Namen sich bei all diesen wunderbaren Menschen herzlich zu bedanken, was sie dann auch tat und jeder in Facebook nachlesen kann.
Und da war natürlich noch Rouja, die Frau, die ich über alles liebte. Ich hatte mehr denn je Angst, dass sie mich verlassen könnte, nach all den Schlagzeilen und Gerüchten in den Medien, die ihr mehr oder weniger die Schuld an meinem Suizidversuch gaben. Aber als ich ihr von meinen Ängsten, meinen schlaflosen Nächten, meinen Albträumen erzählte, schaute sie mich mit einer unglaublichen Kraft an und sagte nur: »Hab keine Angst, Babak. Ich liebe dich und bin Gott dankbar, dass du lebst. Mehr will ich nicht!«
■ ■ ■
Die Vorgänge in den Medien und die ständige Ungewissheit über meine Zukunft hatten ungeheuer viel Kraft gekostet. Zudem traute ich mich nicht mehr vor die Tür – aus Scham war ich sowieso völlig außerstande, jemanden zu besuchen oder mich besuchen zu lassen. Ich war nur darauf bedacht, keinen weiteren Anlass für neue Schlagzeilen zu liefern. Tagsüber hatte ich im Haus die Jalousien heruntergelassen, damit mich niemand von draußen fotografieren konnte. Es war einfach nur gespenstisch. Twilight für Arme. Rouja merkte, dass ich fern davon war, wieder gesund zu werden. Voller Beunruhigung spürte sie immer weitere Anzeichen einer Verschärfung meines Zustandes.
Damit sie auch tagsüber bei mir sein konnte, ließ Rouja ihren Arbeitsvertrag weiter ein halbes Jahr ruhen. Denn ihre stete Sorge war, dass ich mir etwas antun würde, wenn ich zu lange alleine in der Wohnung wäre. Und ihr Misstrauen war berechtigt. Schon vor meinem versuchten Suizid hatte ich sie tagsüber, wenn meine Angstschübe kamen, immer wieder in der Arbeit angerufen. Ich sagte dann immer: »Rouja, mir geht’s nicht gut, ich brauch dich jetzt, ich kann nicht alleine.« Sie ließ dann alles stehen und liegen, egal, ob gerade eine Konferenz oder wichtige Kundengespräche anstanden, und kam nach Hause. Ich brauchte sie in diesen Momenten und musste ihre Stimme hören, um zu verhindern, dass die Dunkelheit in meine Gedanken kam.
Auch jetzt merkte ich genau, wann es so weit war. Ich ging dann in unser Schlafzimmer. Ausgerechnet den Ort, wo ich am wenigsten schlafen konnte in dieser Zeit. Wir haben einen gefliesten Boden aus großen Kacheln. Und genau diese Kacheln schritt ich während meiner Angstzustände stundenlang ab, auf und ab, vor und zurück, und ich zählte dabei jeden Schritt und jede Kachel: eins, zwei, drei, vier, fünf und links und eins und zwei und drei und vier und fünf, drehen und zurück und eins, zwei, drei, vier, fünf, rechts und tac, tac, tac, vier, fünf … im Takt meiner Schritte und der sich ständig beschleunigenden Gedankenspirale aus Selbstanklagen und Vorwürfen. Es war, als würden meine Schritte den Takt zu einer Aufzählung aller Anklagepunkte geben: erstens, zweitens, drittens … und je schneller ich ging, desto schneller kamen auch die zu den Anklagepunkten gehörenden Bildabfolgen. Dazu kam die Angst, gleich würden sie kommen und mich abholen, die Polizei und die Männer vom weißen Tribunal, die mich angrinsten: »Das haben wir doch gleich gewusst, dass wir uns wiedersehen!« Denn natürlich merkte ich, wie ich in den Irrsinn abzugleiten drohte, sodass ich wieder in der Klinik landen würde.
Dazu kam wie damals schon im Hotel der Faktor Zeit als Brandbeschleuniger, der meine Zustände mit fast hypnotischer Wirkung hochlodern ließ. Im Schlafzimmer haben wir eine digitale Uhr, die die Zeit mit einem Laserbeamer in übergroßen roten Ziffern an die Wand projizierte. Die Zeit stets im Auge zu behalten ist für einen Schiedsrichter elementar. Er darf nicht verschlafen vor dem Spiel, er muss die klar definierte Spieldauer einhalten und die Nachspielzeit registrieren. Zeitgefühl, die Zeit beherrschen, das ist drin in jedem guten Schiedsrichter, dass jede Sekunde zählt. Mein Spielfeld hier waren jetzt die Bodenfliesen. Tac. Tac. Tac. Zum Takt der Schritte und dem Takt der ablaufenden Sekunden flog ich wie durch eine Art Zeittunnel in den tranceartigen Zustand meiner letzten Stunden im Hotel, genau dort war ich wieder, in diesem unheimlichen Zimmer, dessen Sog mich damals so verängstigt hatte. War ich vielleicht nur gefangen in einer ewigen Zeitschleife, wie damals, wenn auf meinem alten Plattenspieler der Tonabnehmer hakte und die ewig gleiche Stelle wiederholte? Man musste ihm
Weitere Kostenlose Bücher