Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
ich das verdient hätte? Sie schüttelte nur weinend und wortlos mit ihrem Engelsgesicht den Kopf. Aber was dann? Ich musste einen Schuldigen finden für meinen Zustand, eine Erklärung – ich dachte nicht an Verzeihen. Die Kraft dafür hatte ich nicht mehr.
Diese ziellosen Grübeleien, meine Raserei gegen mich selbst, mein Weinen und Fluchen ging die ganze Nacht über, in der Rouja mich zu umarmen und zu trösten und zu beruhigen versuchte. Aber egal, was sie tat, was sie sagte – nichts davon kam noch in meinem Gehirn an. Ich war dabei abzudriften. Ich bin heute sicher, dass ich ohne sie wieder in den Zustand gefallen wäre, der mich ein paar Tage zuvor fast das Leben gekostet hatte. Rouja war mein letzter Anker, bevor mich der Sturm ganz davonreißen würde.
Inzwischen war durch mein lautes Jammern und wütendes Fluchen auch meine Schwiegermutter im Nebenzimmer aufgewacht. Als sie immer wieder darum bat, meinen Vater zu Hilfe zu rufen, sammelte ich panisch die Mobiltelefone meiner Frau und meiner Schwiegermutter ein. Ich drohte damit, dass ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde, wenn sie mich in die Klinik schicken würden. Ich wollte auch meinen Vater nicht sehen und hören, der in seiner Hilflosigkeit viele gut gemeinte väterliche Ratschläge für mich hatte, die mir jedoch in meiner Situation nicht mehr weiterhalfen. Er sagte immer: »Das wird schon wieder!«, »Wir haben schon ganz anderes durchgestanden«, »Nimm es wie ein Mann, denk an Rouja!«. Diese ganzen falschen Beschwichtigungen funktionieren selten, in meinem kritischen Zustand erst recht nicht mehr. Die Situation spitzte sich zu und ich muss auf die beiden Frauen, die mich so umsorgten, zunehmend bedrohlicher gewirkt haben.
Ich erwachte urplötzlich aus meiner Trance, als ich bemerkte, dass meine Raserei bei meiner Schwiegermutter eine Herzattacke ausgelöst hatte. Sie verlangte verzweifelt nach bestimmten Tabletten, die sie aber nicht dabeihatte. Ich willigte ein, dass sie einen guten Bekannten anrief, der ihr mitten in der Nacht die Tabletten in einer Apotheke besorgen sollte. Bei dem Mann handelte es sich um Abbas, einen Taxiunternehmer, der freiwillig Nachtschichten in Hannover fuhr. Ich gab ihr das Handy zurück, denn zu Abbas hatte ich Vertrauen.
Abbas hatte ich drei Jahre zuvor auf dem Weg zum Flughafen zufällig kennengelernt, als ich noch der große, strahlende Fußballheld war. Es war eine Phase auf dem Höhepunkt meiner Karriere, als es mir noch sehr gut ging, sportlich und beruflich. Ich hatte es eilig und achtete beim Einsteigen nicht weiter auf den Taxifahrer, der mich zum Flughafen bringen sollte. Aber wie das so ist: Manchmal sitzen echte Überraschungen hinter dem Steuer und jeder sollte gut aufpassen, ob er nicht eine Möglichkeit verpasst, einen sehr interessanten Menschen kennenzulernen, wenn er z. B. in ein Taxi steigt.
Er fuhr los und sprach mich nach kurzem Blick in den Rückspiegel an. »Sie sind doch der Herr Rafati, der aus dem Fernsehen, der Schiedsrichter …« Und so begann unser Gespräch. Wie sich schnell herausstellte, war Abbas, wie er sich nannte, Iraner. Ein sehr gebildeter, feiner Mann, der vor vielen Jahren nach Deutschland gekommen war. Hier gehörte er plötzlich nicht mehr zur Oberschicht eines Landes, sondern saß hinter dem Lenkrad eines Taxis. Smalltalk war nicht sein Ding und so waren wir nach drei Sätzen beim Thema Respekt und achtungsvollem Miteinander in der Gesellschaft als Grundlage eines menschenwürdigen Lebens. Ein Thema mit fast prophetischem Inhalt im Hinblick auf das, was in meinem Leben noch alles passieren sollte. Ich kannte dieses Thema aus den Leitbildern und Handlungsmaximen für Bundesligaschiedsrichter, aber wie Abbas es darstellte, mit so viel Leben und Idealismus erfüllt, hatte ich das noch nie erfahren.
Abbas war belesen, wie ich es selten bei einem Menschen erlebt habe – wegen der oft langen Wartezeiten am Taxistand las und exzerpierte er hochwissenschaftliche Bücher, um die Zeit bis zum nächsten Kunden sinnvoll zu überbrücken. Sein besonderes Interesse galt der Psychologie und dem Krankheitsbild der Depression. Abbas muss wirklich alles gelesen haben.
Wir hatten den Flughafen viel früher erreicht als erwartet, ich spürte Bedauern, das interessante Gespräch hier beenden zu müssen. Beim Zahlen sagte Abbas: »Also, Sie sind ja wirklich ein toller Mensch, ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.« Ich war auch beeindruckt: »Ganz meinerseits.« Danach
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