Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
konzentrieren kann. Aufgrund meiner Erfahrungen mit dem persischen Kulturkreis wusste ich jedoch, dass es im Iran üblich ist, dass ein Familienmitglied im Krankenhaus rund um die Uhr von Familienangehörigen versorgt wird. Gleichzeitig sah ich, wie sehr die Lebensgefährtin eine beruhigende Wirkung auf Herrn Rafati hatte, und nachdem sie mir versichert hatte, dass es sie selbst nicht überfordern würde, den ganzen Tag bei ihrem Partner zu bleiben, willigte ich auch diesem Wunsch zu, um dem Patienten einen möglichst guten Behandlungsbeginn zu ermöglichen.
Genauso ungewöhnlich ist es, dass der Partner eines Patienten an jedem therapeutischen Gespräch teilnimmt. Aber auch hier zeigten sich gute Gründe, die es sinnvoll erscheinen ließen, dass die Partnerin von Herrn Rafati an jedem Einzelgespräch teilnahm. Herr Rafati hatte gegenüber seiner Lebensgefährtin absolutes Vertrauen und er benötigte ihre beruhigende Wirkung. Des Weiteren war die Lebensgefährtin durch den Suizidversuch ihres Partners selbst stark verunsichert und evtl. traumatisiert, sodass ich den Eindruck hatte, es könne auch für ihre Verarbeitung der Ereignisse hilfreich sein, wenn sie möglichst gut die Hintergründe für den Suizidversuch verstehe und sie möglichst genau die Einzelheiten des Suizidversuchs kenne. Des Weiteren ergaben sich keinerlei Hinweise darauf, dass die Beziehung zwischen den beiden ursächlich für die Depression oder den Suizidversuch sein könnte, was sich im weiteren Behandlungsverlauf auch so bestätigte. Ich führte also das erste Mal eine psychotherapeutische Behandlung durch, bei der bei jedem Gespräch auch die Partnerin anwesend war.
Nachdem wir alle Einzelheiten für den stationären Aufenthalt besprochen und festgelegt hatten, zeigte ich Herrn Rafati die Station und das Einzelzimmer, das er bekommen würde. Daraufhin verabschiedeten wir uns, da er sich mit seiner Familie beraten wollte, ob er sich bei mir im Klinikum Wahrendorff behandeln lassen wolle. Einen Tag später meldete sich Herr Rafati telefonisch bei mir, um sich im Klinikum Wahrendorff stationär aufnehmen zu lassen.
So ging ich zwei Wochen vor Weinachten 2011 ins Klinikum Wahrendorff in Sehnde, diesmal freiwillig und mit dem Willen, mich behandeln zu lassen. Ich war mittlerweile fast vier Wochen seit meinem Suizidversuch wie ein flüchtiger Schwerverbrecher herumgeirrt, gefühlsmäßig an der äußersten Belastungsgrenze – und in mancher Nacht auch weit darüber. Ich war jetzt eine tickende Zeitbombe, deren Zeitzünder auf Tod programmiert war und jede Minute hochgehen konnte. Die negativen Strukturen in meinem Denken begannen sich irreparabel zu verfestigen. Es war mir klar, dass ich nicht mehr viele Chancen bekommen würde, mein Leben zu retten.
Die Ärzte hatten mir unmissverständlich klargemacht, dass eine Depression umso schwieriger zu therapieren sei, je länger sie schon unbehandelt besteht. Die Ärzte konnten uns nicht sagen, ob mein Genesungsprozess Wochen, Monate oder gar Jahre dauern würde. Ein Gefängnisaufenthalt ist zeitlich festgelegt, ein Klinikaufenthalt allerdings wegen der heimtückischen Krankheit Depression ist zeitlos … und diese Ungewissheit schmerzt zusätzlich ungemein. Wir wussten beide nicht, ob eine Rückkehr in ein normales Leben, in unsere Wohnung, unser persönliches Umfeld, unsere Berufe überhaupt noch möglich sein würde. Würden wir in der Gesellschaft jemals wieder Zutritt bekommen? An unsere Zukunft war nur mit vielen Fragezeichen zu denken – ich hatte einfach keine. Ich musste mich selbst erst mal suchen und wiederfinden und die Ärzte machten uns Mut, dass sich danach schon eine neue Zukunft für uns auftun würde.
Rouja hatte beschlossen, die Krise mit mir gemeinsam durchzustehen. Die Klinikleitung hatte uns ein Zimmer mit Balkon in der zweiten Etage eines ruhig gelegenen Seitenflügels zugewiesen. Allerdings war die Balkontür verriegelt und die Fenster konnten nur gekippt werden. Eine Vorsichtsmaßnahme zum Schutz der Patienten vor sich selbst, damit niemand in die Tiefe sprang. Für mich aber bedeutete es das Gefühl, eingesperrt zu sein, was starkes Unwohlsein auslöste. Rouja durfte den ganzen Tag von 8 Uhr morgens bis 23 Uhr abends bei mir sein, was eine absolute Ausnahme darstellte.
Die ersten Tage in Sehnde waren enttäuschend. Ich hatte irgendwie die Erwartung, alles würde sich jetzt von selbst ergeben. An den Gruppentherapien, den gemeinsamen Mahlzeiten wollte ich auch hier nicht
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