Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
sondern in meiner eigenen Wohnung. Mein Verfolgungswahn machte mich wahnsinnig. Überall witterte ich Verrat. Ich hatte sogar das Foto von Rouja aus der Klinik mitgenommen, das sie zu meiner Aufmunterung, wenn sie nicht da war, auf den Nachttisch gestellt hatte. Ich hatte die fixe Idee, dass irgendjemand vom Personal dieses Bild fotografieren und den Medien zuspielen könnte. Ich dachte nur noch in Schlagzeilen.
Ich war froh, als wir am nächsten Morgen in die Klinik zurückfuhren. Ich habe die Wohnung während der monatelangen Therapie nicht mehr betreten. Danach beschlossen wir, an den übrigen Wochenenden zu meinen Schwiegereltern zu fahren. Doch ich blieb im Niemandsland. Wenn ich dort war, wollte ich zurück in die Klinik – war ich in der Klinik, wollte ich zu meinen Schwiegereltern. Nirgendwo wollte ich bleiben, aber auch nirgendwo wollte ich hin, denn das Gefühl von Geborgenheit war mir an jedem Ort abhandengekommen.
Mit der Rückkehr in die Klinik kam jeden Abend die Angst, wenn Rouja mich wieder verlassen musste. Die einzige Rettung waren meine Tabletten, die mich wenigstens für eine Stunde abschalteten. Danach lag ich wieder wach, gepeinigt von meinen endlosen Vorwürfen. Wenn die Nachtwache in ihrem Zwei-Stunden-Rhythmus zu mir ins Zimmer sah, stellte ich mich schlafend, ich wollte nicht preisgeben, dass ich wach war, da ich befürchtete, dass die Dosierung der Schlaftabletten sonst erhöht würde. An meinem Bett gab es einen Notschalter, auf den man drücken konnte, wenn man Hilfe bräuchte. Wenn ich mich wie in Trance in ein sehr tiefes Loch aus Zweifeln und Vorwürfen gegrübelt hatte, dachte ich, wie froh ich doch wäre, wenn ich mit einem einfachen Knopfdruck auf den Notschalter mein Leben auslöschen könnte. In den ersten zwei Wochen kam dieser Gedanke jede Nacht. Wäre meine Familie mir nicht beigestanden, hätte ich mir meinen »Notschalter« gesucht, der in meinem Sinne funktionierte.
In meiner Krise an einem Tag sehr tiefer Niedergeschlagenheit gab es dann diesen, einen hellen Moment, in dem mir auf einen Schlag bewusst wurde, dass ich nicht länger zurückschauen durfte, sondern mich von allem Vergangenen lösen musste, um mich von meinen selbstquälerischen Gedanken zu befreien. Meine Wohnung war mir bereits fremd und so falsch wie eine Filmkulisse vorgekommen. Ich wollte alles Vergangene abstoßen, das Alte verbrennen, das zu nichts mehr tauglich war. Aufräumen. Dieser Prozess der Ablösung dauerte die folgenden Tage. Ich begann mich zu häuten, mich aus diesem engen Korsett von Erinnerungen herauszuschälen und meinem bisherigen Sein Lebewohl zu sagen. Vielleicht ist es manchmal so, dass man zerstören muss, um Platz zu finden für einen Neubeginn – ich wollte die Leinen kappen, die mein Schiff am Auslaufen hinderten. Das war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus – oder besser: eine Entscheidung aus Verzweiflung. Zunächst musste ich Ballast abwerfen. Eines Tages sagte ich zu meiner Frau, dass sie alles kündigen solle, meinen Handyvertrag, die vielen Sportzeitschriften und Illustrierten, mein Abo beim Sportsender Sky, den Fitnessclub. Alles. Ich hatte mich aus der Gesellschaft katapultiert und jetzt sollte alles Überflüssige weg, was mich daran erinnern würde. Ich brach den Kontakt nach draußen Stück für Stück ab.
Die Klinik wurde mein neues Zuhause. Bald hatte ich so viel Kleidung in meinem Zimmerschrank angesammelt, als wollte ich ein Leben lang dort verbringen – und im selben Augenblick fragte ich mich, was für ein Leben das denn sein sollte und wie lange ich das aushalten würde. Ich wusste nicht, wohin mit mir, wollte nicht leben und konnte nicht sterben. Wenn ich abends meine Medikation bekam, wartete ich schon wie ein Süchtiger darauf, um durch die Dosierung betäubt wenigstens für eine Stunde in einen bewusstlosen Zustand abzugleiten. Erholsamer Schlaf war das nicht. Ich knipste mich aus. Anschließend war ich die ganze Nacht wieder wach und mein Kopfkino versetzte mich in eine Trance. Schlaflosigkeit ist eine unglaubliche Folter. Wie oft wünschte ich mir, einzuschlafen und vielleicht in einen schönen Traum zu entfliehen.
Ich fieberte jetzt nicht mehr dem nächsten Fußballspiel, sondern dem Besuch von Rouja entgegen, die mich allein durch ihre Anwesenheit von meinen kreisenden Gedanken ablenkte und mir ein wenig Linderung verschaffte. Morgens wartete ich wie ein treuer Hund an der Tür und freute mich, wenn ich endlich ihre Schritte hörte. Im Einerlei
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