Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Augen, der mir auf eine fast unerträgliche Art immer ausgeglichen und interessiert an allem erschien, was meine Person und meine Probleme betraf. Bald ging mir auf, dass dieses Interesse ehrliche, mitfühlende Anteilnahme an meinem Schicksal war. Obwohl er seine Patienten noch nie zusammen mit dem Ehepartner therapiert hatte, begrüßte er die Anwesenheit von Rouja sehr, denn die Ärzte wissen heute, dass eine über die Hintergründe der Depression aufgeklärte Bezugsperson die Rückfallquote des Erkrankten deutlich senkt und für einen günstigeren Heilungsverlauf sorgen kann. Denn fehlende Informationen über das Krankheitsbild einer Depression könnten Missverständnisse auslösen. So ist eine Depression, durchaus nicht unheilbar, schon gar nicht ansteckend und – wie tatsächlich manche meinen – ganz sicher kein Zeichen einer Charakterschwäche eines Menschen. Und: Jeden kann es treffen. In jedem Alter. Und jederzeit. Und vor allem: Je früher behandelt wird – desto besser. Das waren für mich damals ganz wichtige Informationen.
Ich fühlte mich bei Dr. Hettich von Anfang an eingebunden als ein gleichberechtigter und respektierter Partner, obgleich meine Probleme nicht beschönigt wurden. Er versuchte mir eine realistische Einschätzung meines Zustandes zu vermitteln. Ich sollte zunächst an meiner Einstellung arbeiten, mich gegen die Krankheit zu sträuben – ich sollte einen Weg finden, sie anzunehmen und in mein Leben zu integrieren. Dr. Hettich versuchte meine Gedanken immer positiv und in eine für mich noch völlig offene, damit jedoch auch gestaltbare Zukunft zu lenken. Es käme immer eine neue Chance im Leben, man müsse nur vier Eigenschaften mitbringen, um diese Chance zu entdecken: Liebe zu sich selbst, Geduld, Geduld und Geduld. Genau die aber fehlte mir. Aber Dr. Hettich hatte Geduld. Er favorisierte eine sehr leicht verständliche Sprache und vermied dabei bewusst medizinische Fachausdrücke, die man als Laie nicht verstehen konnte. Ich hatte zunächst trotzdem das Gefühl, dass alles, was er mir ins eine Ohr sagte, aus dem anderen Ohr wieder abwanderte, ohne in meinem Kopf irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Bei seinen Ausführungen zu meinem Zustand dachte ich in den ersten zwei Wochen nur, dass er mich wie alle anderen Menschen ohnehin nicht verstehen würde. In meiner verengten Gedankenwelt hielt ich mich für den Einzigen, der den vollen Überblick hatte, und das verschaffte mir in meiner ganzen Instabilität eine Überlegenheit, die ich auszuspielen versuchte.
Jedoch stellte ich mit der Zeit überrascht fest, dass seine Erklärungen und Vorschläge zu einer Verhaltensänderung meinen Verstand zeitversetzt erreichten und ich etwa zwei Wochen später plötzlich alles abrufen konnte, wenn ich in eine Stresssituation kam. Dann hörte ich plötzlich seine Worte. Wenn ich seine Übungen zur Abwehr meiner negativen Gedanken noch Tage zuvor als unglaubwürdig oder schlimmer noch als Unsinn abgetan hatte, erkannte ich jetzt, dass sie durchaus funktionierten. Mein Unterbewusstsein hatte weit vor mir alles als richtig und hilfreich erkannt, abgespeichert und stellte es jetzt wieder meinem Verstand zur Verfügung, der anscheinend langsam wieder begann, seine Arbeit aufzunehmen.
Wir besprachen meine Medikation, die sich aus Antidepressiva und Schlaftabletten sowie Tabletten gegen Schizophrenie zusammensetzte. Tabletten lehnte ich zunächst kategorisch ab, mir ging die Patientin aus der ersten Klinik nicht aus dem Kopf, die immer wieder behauptet hatte, wir wären Versuchskaninchen der Pharmaindustrie. Die medikamentöse Unterstützung ist jedoch ein wichtiger Bestandteil der Therapie, wie Dr. Hettich erklärte. Eine psychische Belastung kann das Zusammenspiel der Moleküle und Botenstoffe an den Nervenverbindungen unseres Gehirns völlig aus dem Gleichgewicht bringen. Gut dosiert können entsprechende Medikamente den Gehirnstoffwechsel wieder harmonisieren. Eine Heilung völlig ohne Medikamente war in meinem Zustand nicht mehr möglich. Notgedrungen ließ ich mich überzeugen. Ich musste zunächst hohe Dosen einnehmen. Ich durfte nicht mehr selbst Auto fahren. Die Medikamente machen müde und verringern die Reaktionsfähigkeit. Ich bekam die Medikamente morgens, mittags und abends und lebte die nächsten Wochen wie hinter einer Milchglasscheibe. Diese Medikamente nahm ich auch nach der Entlassung aus der Klinik weiter ein, insgesamt zehn Monate lang.
Patientenbericht Nr. 4, Babak Rafati, Dr.
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