Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
des Klinik-lalltages hatte ich schnell den Klang der Schritte verschiedener Menschen zu unterscheiden gelernt. Die Beschäftigungslosigkeit schärft die Sinne oder schläfert sie ein. Ich war immer wach, stand ständig unter einer immensen Spannung. Roujas Ankunft war jedes Mal eine Erlösung von der Angst, dass sie mich verlassen hätte. Mit ihrer Willenskraft strahlte sie Zuversicht, Wärme und Geborgenheit aus und machte mir Mut. Dabei sah ich in unbewachten Momenten, wie sehr sie damit zu kämpfen hatte, mich so leiden zu sehen. Ich drückte sie panikartig an mich, wenn sie kam, und ich weinte und klammerte mich hemmungslos wie ein Kind an sie, wenn sie ging. Rouja war der Unterschied zwischen Tag und Nacht. Meine Sonne gegen den Mond der Notbeleuchtung im Zimmer meiner schlaflosen Nächte.
Patientenbericht Nr. 3, Babak Rafati, Dr. Hettich
In den psychotherapeutischen Einzelgesprächen stand zunächst die biografische Arbeit im Vordergrund. Dabei wurde deutlich, dass Herr Rafati als Kind durch die Trennung seiner Eltern, den Wechsel zwischen deutschem und iranischem Kulturkreis, das starke Engagement des Vaters als Dolmetscher in der persischen Gemeinde in Hannover einerseits eine starke Bindung zu den Eltern entwickelt hatte, er andererseits seine damalige Welt aber auch als unsicher und wechselhaft erlebt und er sich darin alleine und vernachlässigt gefühlt hatte. Vor diesem biografischen Hintergrund konnten mit Herrn Rafati Lebenseinstellungen und Grundannahmen herausgearbeitet werden, die er sich damals als Kind angeeignet hatte, im Sinne von den bestmöglichen »Überlebensstrategien« in seinem damaligen familiären Umfeld. So wurde es ihm wichtig, innere Sicherheit zu finden durch Selbstständigkeit, Eigeninitiative, äußere Anerkennung und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Schon als Kind hatte er gelernt, sich selbst zu strukturieren und zu kontrollieren und über Leistung äußere Anerkennung zu gewinnen. Früh hatte er sich im Fußball engagiert und sich für das Schiedsrichtersein entschieden. Dabei ist die Funktion des Schiedsrichters auf dem Fußballfeld so sinnbildlich für seine Rolle als Kind in seiner damaligen familiären Konstellation. So wie ein Schiedsrichter die Eigendynamik eines Fußballspiels zu strukturieren versucht und dabei für Ordnung und Gerechtigkeit sorgt, hatte Herr Rafati bereits als Kind versucht, Ordnung, Verlässlichkeit und eine gewisse Regelhaftigkeit in seiner Familie herzustellen, was ihn sicherlich damals als Kind überforderte, verunsicherte und dazu führte, dass er noch heute versucht, Sicherheit durch Regeln und deren Einhaltung zu finden.
Zunächst war Herr Rafati aufgrund der Schwere seiner depressiven Symptomatik diesen biografischen Zusammenhängen nicht zugänglich, weshalb wir die wichtigsten Erkenntnisse auf einer Flipchart sammelten, damit er zu einem späteren Zeitpunkt, wenn es ihm besser ginge, darüber selbst reflektieren konnte. Für mich als Therapeut war es jedoch äußerst wichtig, möglichst gut die biografischen Zusammenhänge zu verstehen, um ein Verständnis dafür zu bekommen, weshalb die aktuellen Belastungen für ihn so belastend waren, dass er nur noch im Suizid einen Ausweg daraus sah. Erst nach der biografischen Arbeit und meinen nun gewonnenen Kenntnissen über die Persönlichkeitsstruktur von Herrn Rafati war es möglich, einen Plan für die weitere psychotherapeutische Behandlung aufzustellen.
Dabei stand zunächst im Vordergrund die Vermittlung von Strategien, wie er günstiger mit dem ständigen Grübeln und Sorgen umgehen könnte. Des Weiteren war es mir wichtig, immer wieder mit Herrn Rafati detailliert über den Suizidversuch und seine Auslöser zu sprechen, damit der Suizidversuch kein von der Persönlichkeit abgespaltenes Ereignis bliebe, sondern Teil seiner Biografie würde und die mit dem Suizidversuch verbundenen starken Gefühle von Verzweiflung, Angst, Ausweglosigkeit und Schuld gelindert würden. Erst nach einer Besserung der depressiven Symptomatik sollten Lebenseinstellungen und Grundannahmen von Herrn Rafati wie sein starker Wunsch nach Anerkennung, sein Gerechtigkeitssinn und seine überhöhten Leistungsansprüche an sich selbst erarbeitet und modifiziert werden, um damit einen Rückfall in die Depression zu vermeiden und ihn für zukünftige Belastungen zu stärken.
Dreimal wöchentlich saßen Rouja und ich gemeinsam bei Chefarzt Dr. Hettich, ein feingliedriger und sehr offen wirkender Mensch mit wachen
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