Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
anspruchsvoller: Ich sollte mein ganzes Leben komplett neu erfinden.
Die kleinen Erfolge, die ich bald wahrnahm, machten mir Mut. Nach zwei Wochen Zögern vertraute ich Dr. Hettich und schüttete mein Herz erbarmungslos aus, machte mich frei von allem, was mich belastete. Es waren sehr aufwühlende Sitzungen, in denen ich manchmal vor Erschöpfung und Tränen nicht mehr sprechen konnte. Eines der größten Probleme bei Männern, die eine Depression haben, war damit endlich aus dem Weg geräumt: die Unfähigkeit zu reden, sich einzugestehen, dass man krank ist und Hilfe annehmen muss, um wieder gesund zu werden. Männer begeben sich bei einer Depression auf einen jahrelangen Weg des Martyriums. Bis zu sieben Jahre dauert es im Schnitt, bis sich Männer einem Arzt anvertrauen und sich behandeln lassen.
Die Ahnungslosigkeit über die Volkskrankheit Depression ist unglaublich groß. Am Anfang stehen immer unverarbeitete Belastungen im Beruf und Privatleben, Mobbing, Arbeitslosigkeit, Scheidung, generelle Verlustsituationen oder der Tod eines geliebten Menschen. Symptome sind Nervosität, unerklärliche körperliche Ausfallerscheinungen, Schmerzen, Lähmungen, Ohrensausen wie bei einem Hörsturz, Stimmungsschwankungen und bei Männern oft ein Hang zu Aggressivität und Alkoholismus. Das Tückische ist, dass sich das Gehirn die pathologischen Erregungsmuster einer Angsterkrankung immer tiefer einprägt, je länger die Störung nicht behandelt wird. Die Krankheit drückt ihren schrecklichen Stempel in Gehirn und Nerven und verschaltet negative Strukturen zu neuen Datenbahnen, die nur schwer wieder aufzulösen sind. Der Kranke erlebt eine negative Situation nach der anderen, bis er nicht mehr in der Lage ist, die ihn quälenden Spannungen abzubauen. Im chronischen Verlauf einer Depression steigt das Risiko für einen Suizid dramatisch an.
Dabei ließen sich die meisten Beschwerden gerade im Anfangsstadium noch am ehesten behandeln und heilen. Am besten nach einem explosiven Ausbruch, wie ich ihn hatte. 50 bis 80 Prozent aller Betroffenen aber, vor allem Männer, streiten in dieser so wichtigen ersten Phase energisch ab, dass sie schwer krank sind. Die Scham, zum »Seelenklempner« zu gehen und sich als depressiv zu outen, ist über einen langen Zeitraum größer als der Leidensdruck. Sie verlängern damit nur ihr Leiden und gefährden auch ihre Angehörigen, die massive Ängste erleben wegen der Veränderungen, die im Kranken vor sich gehen, vor allem auch unter dessen Misstrauen und wachsendem Gefühl, alle gegen sich zu haben, leiden. Viele Familien versuchen das befremdliche Verhalten ihres depressiven Angehörigen zu überspielen und die Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten. Der Stress wird umso größer, je mehr sich die Angst potenziert, dass die Tarnung auffliegt. So ziehen sich die Leiden oft über Jahre hin. Wertvolle Lebenszeit geht verloren.
Als mir Dr. Hettich diese Facetten der Krankheit Depression schilderte, dachte ich, er hätte einfach meine Krankenakte vorgelesen. Auf mich traf das alles zu. Hatte ich nicht am meisten darunter gelitten, dass ich in der Rolle des »starken Rafati« immer größere Versagensängste hatte, weil mir die Kraft ausging, dieses Schauspiel gegen meine innere Stimme weiter durchzuhalten? Hatte ich meine Stimmungsschwankungen nicht stets weggewischt, genauso wie die Warnung meiner Schiedsrichterkollegen, sie hätten das Gefühl, ich sei suizidgefährdet? Dr. Hettich fragte mich, was ich ihm denn gesagt hätte, wenn er mir vor einem Jahr empfohlen hätte, eine Therapie zu machen. Ich antwortete, ich hätte steif und fest behauptet, dass ich kerngesund sei und dass er sich alleine hinsetzen könne.
Ich sah, wie sehr ich in einem aussichtslosen Kampf gelitten hatte, es tat mir weh, dass ich so lange gegen die Erkenntnis angerannt war, dass ich Hilfe brauchte. Ich hatte mich immer für stark und unangreifbar gehalten. Mein beruflicher und sportlicher Erfolg hatten mich dem trügerischen Glauben überlassen, das würde immer so sein. Ich dachte in meiner grandiosen Selbstüberschätzung, ich würde mein Leben beherrschen und die Welt sich nach mir richten. Wir sind aber nicht vollkommen. Das Starke und das Schwache ist in gleichen Teilen in uns, mal überwiegt das eine, mal das andere. Wahre Vollkommenheit ist da, wo wir auch unsere Schwächen akzeptieren und sie mit unseren Stärken im Gleichgewicht halten. Mit meinem bisherigen Lebensmodell, jede Schwäche zu leugnen, von mir
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