Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
abzuspalten und nur Stärke und Erfolg zum Maßstab aller Dinge zu machen, war ich tragisch gescheitert.
Es war der nächste Schritt in meinen langen Gesprächen mit Dr. Hettich, meine Schwächen als Teil von mir zu akzeptieren und in mein neues Leben zu integrieren.
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Jedes Mal, wenn ich mit Rouja das Behandlungszimmer von Dr. Hettich betrat, fragte er mich, was mich aktuell beschäftige und bedrücke. Diese Vorgehensweise empfand ich als angenehm und vertrauenswürdig, denn es war kein starres Programm, bei dem der Therapeut jede Sitzung stur nach Plan ablaufen lässt. Er verstand es sehr geschickt, mir den Eindruck zu vermitteln, dass ich meinen Gedanken freien Lauf lassen konnte. Durch seine sehr stark ausgeprägte Empathie sah ich in seinem Gesicht auf der einen Hälfte ein zustimmendes Lächeln und auf der anderen Hälfte eine tröstende Traurigkeit, sodass es mir leichtfiel, ihm das, was mich wirklich beschäftigte, offen darzulegen. Auf seinem Gesicht spiegelten sich die Gefühle wider, die von mir verbal ausgedrückt wurden.
Einmal hatte er mir eine grafische Darstellung meiner Gefühlskurve in der Depression gezeigt, die in Wellen nach oben und unten verläuft. Ich sollte mir bewusst sein, dass im Krankheitsverlauf die Stimmung ständig wechselt und wie Aprilwetter sehr unberechenbar sein kann. Gefühle kennen keine Regeln, sondern entstehen und vergehen durch viele Faktoren. Vor allem aber durch Menschen, denen wir im Laufe des Tages begegnen. Es geht nicht darum, unsere Gefühle zu unterdrücken – sondern darum, ihre Ursachen ohne Vorurteile zu erkennen und sie ohne Wertung zuzulassen. Es ist, wie wenn man in einer Sommerwiese liegt und die Wolken über sich vorüberziehen lässt – wir sehen sie kommen und gehen, aber wir greifen nicht danach, versuchen nicht, sie zu halten. Sie kommen, sie sind einfach da – und sie vergehen wieder.
Im metakognitiven Behandlungskonzept geht es darum, die Gefühle, die uns bewegen, sichtbar zu machen. Um meine Ängste zu verstehen, hatte Dr. Hettich eines Morgens auf einer Flipchart meine gesamten ne gativen Gedanken notiert, die mich jede Nacht in Ketten legten. Wir gingen alles gemeinsam durch und ergänzten. Dann bat er mich, meine Stär ken und Schwächen zu nennen. In meinem Zustand fiel es mir schwer, auch nur ansatzweise Stärken zu definieren, denn ich sah nur Schwächen. Ich hatte doch in der Gesellschaft total versagt, somit war aus meinem Blickwinkel das Glas komplett leer. Dr. Hettich brachte mich mit seinen geschickten Fragen und Denkanreizen dazu, auch mal die andere Seite zu sehen, von der aus das Glas halb voll ist. Er fragte mich, wie sich das anfühlen würde – und natürlich war dieses Gefühl sehr angenehm, obwohl sich an meiner Lage objektiv nichts geändert hatte.
In einer Depression übernimmt negatives Fühlen und Denken bald alle Bereiche des menschlichen Seins, während ein kleiner Perspektivenwechsel Wunder wirken kann. Darum ging es in der Therapie, es ging darum, aus den eingefahrenen Negativspuren herauszukommen. Dr. Hettich machte mir Mut. Meine alten Stärken, die früher so im Vordergrund gestanden hatten, seien mir nicht abhandengekommen, sondern sie seien gegenwärtig nur verschüttet und sie seien sehr wichtige Ressourcen, die nach der Heilung dieser heimtückischen Krankheit wieder spielend abgerufen werden könnten. Meine Persönlichkeit sei zwar verletzt und brauche Hilfe, aber sie sei nicht zerstört.
Ich erinnerte mich wieder an meine Herzlichkeit, meine Freude am Leben, meinen Humor, meinen Gerechtigkeitssinn, meine Hilfsbereit schaft, meine Sensibilität, meine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Har monie, meine Vertrauensseligkeit, meine Offenheit allen Menschen ge genüber, die mir oft genug als Naivität ausgelegt worden war. All das strich Dr. Hettich aber als meine großen Stärken hervor. Ich dagegen sah darin eine Ursache für mein Versagen, hatte doch niemand »da draußen« diese angeblichen Stärken des Menschen Rafati geachtet, sondern als Schwäche ausgelegt und genutzt, um mich ins Abseits zu stellen. Ich sah doch, wel cher Wert in der Konkurrenzgesellschaft solchen Eigenschaften zugemes sen wurde. In den Augen der Öffentlichkeit musste ich doch versagt ha ben, weil ich am Konkurrenzdruck gescheitert war und mich allem durch Suizid zu entziehen versucht hatte, ohne dabei an meine Lieben zu denken. Und jetzt sollte ich meine Schwächen plötzlich toll finden? Ausgerechnet Rafati, der in den
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