Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Balance finden.«
Ich brauchte jemanden, der mich nach den psychologisch sehr beanspruchenden Szenen im Stadion aufbaute und stützte, denn eine psychologisch betreute Stressaufarbeitung nach dem Spiel fand damals nicht statt. Direkt im Anschluss treffen sich zwar alle vier Referees, also der Schiedsrichter, seine beiden Schiedsrichterassistenten und der vierte Mann, mit dem Schiedsrichterbeobachter – zumeist ein ehemaliger Bundesligaschiedsrichter wie zum Beispiel Wagner –, um die strittigsten Situationen der Partie anhand der Videoaufnahmen durchzugehen.
Aber das entstresst nicht. Vor allem wenn es derart massive Probleme gibt. Schon wenige Stunden nach dem Abpfiff ist ein Schiedsrichter mit sich und seinen Gedanken völlig alleine. Da geht einem natürlich jeder Fehler noch zigmal durch den Kopf; auch dass ein gewaltbereiter Fan auf mich zugestürmt war, beschäftigte mich.
Fandel kannte auch diese lebensgefährliche Seite des Schiedsrichterberufes: Am 2. Juni 2007 leitete er die EM-Qualifikationspartie zwischen Dänemark und Schweden, als er nach der Vergabe einer Roten Karte gegen Markus Rosenberg von einem dänischen Fan körperlich angegriffen wurde. Fandel brach das Spiel beim Stand von 3:3 ab.
Fandel und Krug kannten sich auch mit Fehlentscheidungen gut aus, sie schrieben damit beide Bundesligageschichte. Krug, als er 2001 im Spiel des Hamburger SV gegen den 1. FC Kaiserslautern Sergej Barbarez, dem Torjäger des HSV, bereits in der 16. Spielminute die Rote Karte nach einem Kopfstoß zeigte – und damit den Falschen bestrafte. Nicht Barbarez hatte Michael Schjönberg – sondern Schjönberg hatte Barbarez einen Kopfstoß verpasst. Eine krasse Fehlentscheidung. Krug kam damals erst gegen 23.00 Uhr sehr verlegen aus seiner Kabine, weil der Stadionwart das Licht ausmachte und nachdem die wartenden Reporter schon gemutmaßt hatten, Krug sei durch einen Geheimausgang geflohen. Und Krug hatte vermutlich gehofft, die Reporter hätten sich vor Redaktionsschluss bereits auf den Rückweg gemacht. Krug hatte inzwischen die glasklaren TV-Bilder gesehen – und schob den Weltverband und seine Regeln vor: »Die FIFA steht auf dem Standpunkt: Tatsachenentscheidung ist Tatsachenentscheidung.« Würde heißen: Sperre Barbarez trotz Fehlurteil Krug. Es war ein Skandal damals. »Eine kuriosere Entscheidung habe ich noch nie erlebt. Mehr kann ich dazu nicht sagen«, meinte Trainer Frank Pagelsdorf damals. Deutlicher wurde Werner Hackmann: »Die Rote Karte hat uns um den Sieg gebracht«, schimpfte der Vorstandsvorsitzende. »Krug hat eindrucksvoll bewiesen, dass Schiedsrichter Spiele ganz allein entscheiden können. Wenn Barbarez gesperrt wird, würde ich an der Gerechtigkeit im Fußball zweifeln.«
Herbert Fandel hatte seine legendärste Fehlentscheidung sogar vor laufender Kamera zu verantworten. Damals hatte er Hasan Salihamidzic im prestigeträchtigen Bayernderby, FC Bayern München gegen 1860 Mün chen, wegen angeblichen Nachtretens vom Platz gestellt, nach einem »für mich glasklaren« Foul, so Fandel. ZDF-Reporter Töpperwien rollte ihm damals einen Monitor in die Kabine und führte die Szene vor. Der geschockte Fandel über diese Szene: »Totale Fehlentscheidung, Katastrophe, Blamage vor Millionenpublikum.« Vor der Presse gestand Fandel anschließend: »Ich habe Salihamidzic zu Unrecht des Feldes verwiesen.« Da Fandel seine Entscheidung im Spielbericht für falsch erklärte, war die Basis für einen Freispruch gegeben. Fandels Rote Karte wurde einkassiert. Das Sportgericht des DFB hatte auf Antrag des DFB-Kontrollausschusses die Einstellung des Verfahrens gegen den Bosnier und die Aufhebung der Vorsperre beschlossen. Der Weltverband FIFA hatte durch Zirkular Nummer 866 vom 24. September 2003 bei einem »offensichtlichen Fehlentscheid des Schiedsrichters« ein solches Vorgehen zugelassen. Auch Krugs Rote Karte wurde für nichtig erklärt: Am 10. Mai 2001 wurde der Hamburger Profi Sergej Barbarez vom DFB-Sportgericht freigesprochen. Es habe sich um einen »Wahrnehmungsirrtum« des Unparteiischen gehandelt, hieß es damals in der Urteilsbegründung. Eine Blamage sondergleichen. Fandel und Krug hatten damit die bis dahin einzigen Fälle ausgelöst, bei denen das DFB-Sportgericht eine Rote Karte für nichtig erklärte.Wegen einer Fehlentscheidung des Schiedsrichters. Das hatte es in den Jahrzehnten vorher noch nie gegeben.
Ich erzähle das hier nicht mit Häme, sondern damit klar ist: Jeder Schiedsrichter macht
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