Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
mit ihrem Licht das ganze Zimmer zu fluten schien. Ich knipste die Deckenleuchte wieder an. Ich zappte ziellos durchs Fernsehprogramm. Ich blieb bei einem Verkaufskanal hängen und starrte minutenlang auf die Bewegungen eines Mannes, der Tapetenroller präsentierte. Körpersprache. Fandel. Ich warf die Fernbedienung aus dem Bett und warf mich in die Kissen. Kaum war das Licht aus, hing mein Blick auf den Leuchtziffern der Uhr und ich zählte mit. Es entwickelte sich in dieser Nacht ein extrem unerbittlicher Kampf mit dieser Uhr. Wie magisch zog mich das blaue Licht an. Ich beobachtete jedes Umspringen der digitalen Ziffern und errechnete zwanghaft jede Minute, wie viel Zeit bis zur Abfahrt in die Arena und bis zum Anpfiff bleiben würde. Die Rechenoperationen hemmten meine negativen Gedanken, aber sie verhinderten genauso, dass ich einschlief. Der Schmerz und die Verzweiflung in meinem Kopf wurden immer stärker. Einerseits realisierte ich genau, wie zwanghaft mein Verhalten war, dass ich dabei war, die Kontrolle zu verlieren – andererseits konnte ich dieses Schadprogramm nicht mehr abstellen. Es nahm im Gegenteil immer mehr Beschleunigung auf. Und das machte mir Angst.
Ich stand wieder am Fenster, sah das Blinken der Uhr dahinter, draußen in der Silhouette der dunklen Stadt den schwarzen Obelisken. In der Spiegelung der Scheibe verschmolz mein Gesicht mit dem Blinken der Uhr und dem schwarzen Obelisken. Und zum ersten Mal drängte der Gedanke nach oben, diesen unüberbrückbaren Kurzschlüssen in meinem Kopf ein Ende zu bereiten. Wie wäre es, dort oben zu stehen, die Arme auszubreiten und einfach in die dunkle Stadt zu stürzen? Die Ruhe, die ich erwartete, schien mir von unendlicher Verlockung. Eine Lösung schien sich aufzutun. Ich spielte den Sturz bis zum Aufschlag gedanklich durch. Das war der Punkt, wo ich wieder zur Besinnung kam. Der Aufschlag. Der Gedanke an mein Ende löste einen Schock in mir aus. Ich war tief berührt und hatte Tränen in den Augen. Sollte ich wegen der Probleme die ich hatte, mein Leben einfach wegwerfen? Waren die Menschen, die mir das angetan hatten, das wert? Zweimal Nein. Und für einen Moment schien alles so nebensächlich, idiotisch überzogen. Ich hatte mich nur in etwas hineingesteigert. Für einen kurzen Moment entstand eine seltsame Ruhe. Ich hatte keine Lösung. Aber dieser irrsinnige Gedankenstrom in meinem Kopf war erloschen. Vielleicht, weil ich jetzt völlig erschöpft war. Ich legte mich zurück ins Bett. Die stete Überforderung der vielen nicht zu bewältigenden Eindrücke, die sich ständig in meine Wahrnehmung pressten und nicht abzuschalten waren, und die Schlaflosigkeit hatten mich Kraft gekostet. Ich merkte, ich war leer. Ich fühlte mich so allein und hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass mich jemand aufhob. Ich atmete tief aus, ich spürte, dass ich dabei war einzuschlafen. Ich dämmerte langsam weg und fiel ganz tief durch viele Schichten meiner Erinnerung zurück in meine Kindheit. Ich träumte von meinem Vater.
■ ■ ■
Eine staubige Sandstraße, irgendwo bei Teheran. Ein Auto fährt weg. Ein kleiner Junge weint. Niemand winkt. Nur ich. Der Junge bin ich. Tränen machen mich fast blind. Das Auto nimmt Fahrt auf und wirbelt zum Abschied eine Staubfahne auf. Der Abstand wird größer. Größer. Und ich will nicht, was da passiert. Aus einem Impuls heraus laufe ich dem Auto hinterher, denn es bedeutet mir in diesem Augenblick alles, was ich an Hoffnung habe. Und jetzt fährt die Hoffnung fort. Und ich kann es nicht aufhalten. Erschöpft bleibe ich stehen. Ich spüre diesen Schmerz bis heute noch, den Schmerz, etwas sehr Wichtiges zu verlieren. Ich rufe, ich schreie meine ganze Verzweiflung heraus: »Nimm mich mit. Bitte, nimm mich mit nach Deutschland!! Lass mich nicht hier!« In dem Auto sitzt mein Vater. Das Auto verschwindet im Staub. Als ich mich umdrehe, sehe ich meine Mutter ausdruckslos dastehen. Etwas in mir ist zerbrochen, ich würde es gerne zusammenfügen. Ich würde mich entscheiden müssen, sonst würde ich immer zwischen den beiden im Nirgendwo stehen. Ein Nirgendwo zwischen Deutschland und dem Iran.
Mein Vater Djalal war 22, als er 1959 nach Deutschland kam und sein Sprachstudium aufnahm. Auf seinen vielen Reisen zurück in die Heimat hatte er irgendwann meine Mutter kennengelernt. Die Ehe wurde klassisch durch die beiden Familien angebahnt. Die Mütter sprachen sich ab und man brachte die heiratsfähigen Kinder zusammen in
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