Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Zwanziger denkt in diesen Minuten wieder an Robert Enke, der sich fast auf den Tag genau zwei Jahre zuvor das Leben genommen hatte. Depression. Erschöpfung. Energieverlust. Zwanziger denkt an die Schockwellen, den dieser Suizid auslöste, an die bewegenden Trauerreden beim Abschied im Stadion, den Abschiedsbrief der Nationalmannschaft. Und nun schon wieder?
Während der Fahrt nach Köln laufen schon die ersten Eilmeldungen über die Nachrichtenticker: »Verzweiflungstat eines Schiedsrichters«, »Drama um Rafati – Bundesliga unter Schock«. Die gefährliche Medienmaschine ist angelaufen. Jetzt gilt es, die Ereignisse nicht in die falsche Richtung laufen zu lassen. Im Auto telefoniert Zwanziger ununterbrochen, gibt Anweisungen – wirft seinen gesamten Terminplan über den Haufen. Heute wird es nur noch ein Thema geben: Babak Rafati. »Zwanziger wird sich in Köln persönlich ein Bild über die Hintergründe machen«, sagt Ralf Köttker, Mediendirektor des Deutschen Fußball-Bundes auf die ersten Presseanfragen.
14:45 Uhr: Auch die Polizei Köln wird mit Reporterfragen bombardiert. Der Kölner Polizeisprecher Carsten Möllers bestätigt lediglich einen Einsatz im Hyatt-Hotel, teilt aber nichts Näheres zu den Umständen und keinen Namen des Opfers mit: »Es gab um 13:45 Uhr einen Einsatz im Hotel wegen einer verletzten Person.« Die Beamten halten sich bedeckt, denn ihre Kollegen im Lagezentrum der Polizeidirektion Hannover suchen immer noch nach Rouja, der Lebensgefährtin von Babak. Keiner weiß, wo sie sich aufhält. Babaks Vater haben die Beamten inzwischen erreicht und informiert. Djalal Rafati erholt sich zu Hause von einer schweren Augenoperation. Er kann nicht fassen, was geschehen ist. Auch er weiß nicht, wo Rouja zu erreichen ist. Kurze Zeit vorher hatten sie sich noch gesehen, sie sei sehr unruhig gewesen, weil Babak sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Ihr Handy ist wie tot, stundenlang läuft nur die Mailbox. Gibt es etwa ein zweites Opfer? Hat sie sich was angetan? Alles scheint möglich in diesen Minuten. In jedem Fall will die Polizei verhindern, dass Rouja erst aus den Nachrichten erfährt, was in Köln geschehen ist. Ein Kriseninterventionsteam steht bereit.
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Rouja erzählte mir später, sie habe zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst, was geschehen sei. In der vergangenen Nacht kurz vor elf hatte sie mir noch eine SMS geschickt: »Ich liebe Dich, schlaf gut und versuch Dir keine Sorgen zu machen.« Immer wenn ich zu einem Fußballspiel unterwegs war, schlief Rouja auf der Couch im Wohnzimmer, weil sie es in unserem Schlafzimmer allein nicht aushielt. Ihre Mutter übernachtete dann manchmal bei uns, um ihrer Tochter beizustehen, die dem Spiel mindestens genauso entgegenfieberte wie ich.
Sie wählte am Morgen meine Handynummer, aber ich hob nicht ab. Sie überlegte, ob sie die Rezeption im Kölner Hotel anrufen und fragen sollte, wo ich erreichbar sei. Sie verwarf den Gedanken. Damals waren wir noch nicht verheiratet und sie war unsicher, was das Personal denken würde, wenn eine Frau mit anderem Namen beim Schiedsrichter Rafati anrufen würde. Sie wollte keine Spekulationen aufkommen lassen, weil ich ihr auch immer wieder eingeschärft hatte, dass ein Schiedsrichter einen für alle unzweifelhaft untadeligen Lebenswandel haben müsse. Sich unter falschem Namen zu melden, kam für sie nicht infrage. Das ist nicht unsere Art. Wenn man einen Migrationshintergrund hat, versucht man sich viel stärker anzupassen, sichtbare und unsichtbare Grenzen zu respektieren und unter keinen Umständen aufzufallen oder anzuecken. Du kannst seit Jahrzehnten in diesem Land leben und dich wie ich noch so sehr als Deutscher fühlen, ganz tief im Inneren bleibt immer ein Rest Furcht bestehen, man könnte durch ein ungewollt fehlerhaftes Verhalten abgelehnt werden. Achtung mir gegenüber durch die Öffentlichkeit hatte ich als unbedingt anzustrebenden Wert immer in den Mittelpunkt meines Lebens gestellt. Umso schlimmer traf uns, was dann mit uns in der Öffentlichkeit geschah.
Gegen 8:30 Uhr hatte Rouja noch mehrmals versucht, mich anzurufen. Wir telefonierten sonst jeden Morgen vor dem Spiel. Sie wünschte mir Glück und gab mir einen Kuss durchs Telefon. Das war eiserne Gewohnheit. An diesem Morgen kam nichts mehr. Sie rief meinen Vater Djalal an, der sie beruhigte, er hätte in der Früh mit seinem Sohn gesprochen. Er sagte, dass ich mich belastet gefühlt hätte vor dem Spiel und so gut wie nicht
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