Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Scham durchströmte in heißen Wellen jede Faser meines Körpers. Die sich aufbäumende Verzweiflung schnürte mir komplett die Kehle zu. Ich schnappte nach Luft. Hätte ich die Kraft gehabt, ich wäre in diesem Moment ohne zu zögern aus dem Fenster gesprungen. Ich war aber körperlich wie gelähmt. Die Schwestern drückten mich ins Bett. Eine zog eine Spritze auf.
Sie waren aufmerksam geworden und sahen, wie mich mein ganzes Elend übermannte. Ich weinte unermüdlich, schlug mit dem Kopf hin und her und wollte nur wissen, wo meine Familie sei. Sie versuchten mich zu beruhigen, aber vergeblich. Was ich fühlte, war unermesslich. Ich hatte in diesem Moment alles verloren, den Fußball, die Achtung und Anerkennung meiner Mitmenschen, vor allem jener, die ich liebte, Rouja, meiner Familie. Ich war wieder im Nichts der Bedeutungslosigkeit angekommen – dort, wo ich im Alter von acht Jahren in Deutschland begonnen hatte. Alle Träume und Ziele, für die ich in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gekämpft hatte, waren durch die Schwäche einer einzigen Nacht zertrümmert worden. Ich war gescheitert, mein Leben erschien mir völlig sinnlos. Ich war wütend auf mich, dass ich nicht über die Folgen nachgedacht hatte. Das Ausmaß meines Tuns war mir in der Nacht überhaupt nie in den Sinn gekommen, ich war so darauf fixiert gewesen, endlich diesen Film zu stoppen, egal, mit welchen Mitteln. Ein Phänomen der Krankheit Depression, wie ich erst später erfahren sollte.
Als mich eine der Krankenschwestern zu trösten versuchte, schien mir das so billig. Ich schrie sie wütend an, sie behandle mich wie ein kleines Kind, und warf ihr vor, dass sie gar keine Ahnung habe, was ich verloren hätte. Sie aber blieb ganz ruhig und entgegnete mir, dass mich meine Familie lieben würde, mich nicht allein lassen und mich sicher bald besuchen würde. Ich hatte keine Hoffnung, dass mich noch irgendwer lieben würde, und versuchte kraftlos zu erklären, dass meine Familie die berechtigte Frage stellen würde, ob ich auch nur einen Moment mal an sie gedacht hätte, als ich diese schreckliche Tat begangen hatte, oder mir auch nur ein bisschen meiner Verantwortung bewusst gewesen wäre, was auf dem Spiel stehe. Ich versteckte mein Gesicht schluchzend im Kissen, unfähig weiterzusprechen. Ich war tatsächlich wie ein kleines Kind, ein Kind, das Schutz suchte und keinen fand. In diesem Moment war ich verzweifelt, dass mich meine Familie verstoßen würde und ich sie alle nie wieder sehen dürfte. Was war das für ein unbeschreibliches Gefühl, ein Gefühl der vollkommenen Leere – so fühlte es sich an, das Gewahrwerden meiner absoluten Niederlage. Du kannst nichts sagen. Nichts denken. Du bist umschlossen von einer kalten, unerbittlichen Leere. Vor einem Jahr noch der starke, entscheidungsfreudige Schiedsrichter und jetzt nur ein Häufchen Elend, verwundet und bandagiert in einem Krankenbett.
Wieder kam Wut gegen mich selbst hoch: Wenn ich schon so blöd gewesen war, mir das Leben nehmen zu wollen – warum hatte ich so völlig versagt, mein Ziel zu erreichen, um mir damit all das zu ersparen, was jetzt auf mich zukommen würde? War ich denn zu nichts mehr imstande? Was war ich doch unfähig und wie tief war ich durch mein Fehlverhalten gesunken! Obwohl ich körperlich völlig kraftlos war, spürte ich, mit welch ungeheurer Energie die Enttäuschung in mir wühlte, mit welchem Leichtsinn ich mich einfach so vom Platz gestellt hatte. Ich stand wie nackt in meiner ganzen Schwäche in der Öffentlichkeit, vor aller Augen hatte ich mich selbst entlarvt.
Und nun würde jeder in unserer Gesellschaft erfahren, welche Gefühle ich wirklich die ganze Zeit über vor mir und vor allen Menschen so unbedingt hatte verstecken wollen, nämlich wie sehr ich mich die letzten achtzehn Monate über verletzt und in meiner ganzen Persönlichkeit infrage gestellt gefühlt hatte. Wie verzweifelt ich bemüht gewesen war, das innere Gleichgewicht nicht vollends zu verlieren und das Bild, das ich von mir hatte und von dem ich wünschte, dass mich die ganze Gesellschaft so sehen würde, mit allen Mitteln bis zur völligen Erschöpfung aufrechtzuerhalten. Stark, selbstbewusst und erfolgreich. Rafati. FIFA-Schiedsrichter. Der erste Schiedsrichter der Bundesliga mit Migrationshintergrund. Eine Vorzeigekarriere. Einer von uns. Alle würden jetzt sehen, wie sehr ich mich an eine Rolle geklammert hatte, für die mir mit jedem Tag und jeder neuen seelischen Verletzung
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