Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
mein Gott, es war ein Schock, fürchterlich und beschämend zugleich! Das Spiel musste längst begonnen haben. Ohne mich. Was mache ich noch hier? »Verdammt, kann irgendjemand diese Uhr entfernen, ich kann keine Uhren mehr sehen, nehmt bitte endlich die Uhr weg!« Ich weiß heute nicht mehr, ob ich das laut gerufen habe – oder ob es nur ein Aufschrei meiner Seele war.
Mit den ersten Erinnerungen kam auch die Erkenntnis, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Warum stand ein Polizeibeamter draußen auf dem Gang? Was hatte ich verbrochen? Ich hatte keinerlei Erinnerung, was in diesem unheimlichen Hotelzimmer geschehen war – zunehmend panisch versuchte ich herauszufinden, warum ich hier war, verletzt, bewegungsunfähig – und nicht im Spurt auf der Diagonallinie im Stadion, das Spiel leitend. Stück für Stück begriff ich, dass sich etwas Schwerwiegendes ereignet hatte. Ich kann den panischen Schrecken, der mich erfasste, nicht grausam genug ausmalen …
Es war dasselbe dumpfe seelische Stechen, das mir in der Nacht schon den Verstand geraubt hatte. Dann leuchteten immer mehr Details auf, fügten sich in ein großes Mosaik der Erinnerung. Es war das Bild meines Absturzes ins Nichts. Ich stand vor dem unbegreiflichen Rätsel einer Tat, die ich nicht mehr ungeschehen machen konnte, obwohl ich der felsenfesten Überzeugung war, dass nicht ich das gewesen war – sondern ein Fremder, mein Geist, mein Albtraum – aber nicht ich, Babak Rafati. Ich hatte keine Erklärung, so unwirklich erschien mir das ganze Geschehen der vergangenen Nacht, das sich mit immer rasenderen Bildern in mein Bewusstsein drängte. Ich erkannte mich in all dem nicht wieder, konnte es nicht fassen. Ich erfand Ausflüchte, Ausreden, Lügen, ich wehrte mich mit allen Fasern dagegen, es wahrzuhaben – und kam am Ende meiner verzweifelten Überlegungen jedoch immer wieder an denselben Punkt: Es war geschehen.
Ich selbst hatte es getan. Ich hatte mich schuldig gemacht. Mit einem Schlag wurden mir die ganzen Konsequenzen deutlich. Das Spiel lief ohne mich. Ich war endgültig draußen. Nicht nur für das nächste Spiel, nicht nur für diese Saison, nein FÜR DIE EWIGKEIT! Ich konnte mir ausmalen, was für einen Aufruhr mein Fehlen ausgelöst hatte. Noch nie hatte ein Schiedsrichter so kurz vor einem Spiel so derartig versagt. Ich spürte, wie heiße Scham jeden weiteren Gedanken überblendete. Die Bundesliga, die Zuschauer, die Medien und die Fanforen – ganz Deutschland würde sich in der Berichterstattung überschlagen. Mein Karriereaus war sicher.
Und viel schlimmer noch: das Bild des Versagens, das ich in der Öffentlichkeit abgeben würde, die Schande, die ich über meine Familie und Rouja gebracht hatte. Wie sollte ich ihnen je wieder unter die Augen treten? Ich fürchtete am meisten, meine Familie würde mich verstoßen. Überhaupt, wie sollte ich das meinen Freunden, meinen Nachbarn und den Menschen auf der Straße, die mich mein Leben lang darauf ansprechen würden, erklären? Was würden meine Chefs in der Bank, die Arbeitskollegen, meine Kunden und Geschäftspartner, die ganze deutsche Gesellschaft von mir denken? Ich würde mich nie wieder irgendwo blicken lassen können.
Ich hatte bemerkt, dass ganz viel Personal um mich herumstand – obwohl ich der einzige Patient in diesem Teil der Intensivstation zu sein schien. Dazu der Polizeibeamte vor der Tür. Ich versuchte, den Gesprächen der im Raum anwesenden Menschen Informationen über das Geschehen abzulauschen, um mehr über meine unheimliche Situation zu erfahren. Ein Arzt sagte zu den Schwestern, dass niemand Zutritt zu meinem Zimmer haben dürfe. Es würden sehr viele Journalisten »oben« warten und einige könnten versuchen, in die Klinik hereinzukommen, die Schwestern dürften aber auf keinen Fall Auskunft über meinen Zustand geben und auch nicht verraten, in welchem Zimmer ich untergebracht sei. Alles, was ich aufschnappen konnte, machte mir Angst. Meine schlimmsten Befürchtungen waren bereits übertroffen. Ich wurde gejagt, die ganze Öffentlichkeit würde an jedem kleinsten Detail meiner Niederlage interessiert sein. In immer weiteren Schockwellen zog meine Erkenntnis Kreise, was ich da angerichtet hatte.
Jetzt war es tatsächlich geschehen: »Dieser Sport verbrennt Menschen!« Fandels so leicht dahingesagter Spruch, der wie zu einem Fluch für mich geworden war, hatte sich erfüllt: Ich war auf immer und ewig verbrannt. Ich hatte mein Gesicht verloren. Bittere
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