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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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mich jetzt einfrieren lassen. Der Winter ist ja unterwegs.
    Für immer Dein W.
    Zwei Briefe aus der Zeit, aus der Akte, etwa so staatsgefährdend wie handgemalte Sternschnuppen an Kinderzimmerdecken. Warum ich verzweifelt klang, weiß ich nicht mehr. Es gibt fürSiebzehnjährige oft und reichlich Gründe, verzweifelt zu sein. Vielleicht war ich verzweifelt, weil sie nicht kam, nicht kommen konnte, weil wir uns nicht sehen konnten, weil es so schwierig war, weil keine Lösung in Sicht war, weil wir nicht wußten, was wir machen sollten, und sie, sie war aus dem gleichen Grund traurig. Das müßte hinkommen. So wird’s gewesen sein.
    Klar, sie in München, ich in Berlin. Deutsche Grenze, deutsch-deutsche Paranoia, alles mußte kreuz und quer, von morgens bis abends, von 1 bis 99 durchüberwacht werden. Kein Grund zur Aufregung. Liebesbriefe werden immer gern gelesen. Und ohne eine Ahnenreihe andeuten zu wollen: Sind Kafkas Briefe an Felice, Goethes Briefe an die Stein, Abaelards Briefe an Eloise nicht sogar veröffentlicht worden? Verschlang sie nicht jeder ohne Skrupel? Sollte ich vielleicht der Stasi dankbar sein, daß sie nur intern und für den Dienstgebrauch mitlas?

    Ost-West-Beziehungen waren in den achtziger Jahren nichts Besonderes und ergaben sich immer wieder. Es gab, zumal in Berlin, viele Gelegenheiten, sich über den Weg zu laufen. Schulklassen saßen auf dem Alex rum. Reisebusse schwammen durch die Straßen. Die Stadt war voll von westdeutschen und Westberliner Tagestouristen, die in der Regel scharf darauf waren, mal ein paar ostdeutsche Exoten kennenzulernen. Sie latschten überall in die Museen, in Ausstellungen, in Buchläden oder ins Theater, und da habe ich Liane auch das erste Mal getroffen.
    Es war bei einer Theateraufführung, Anfang der Achtziger im Palast der Republik, wo das Publikum an den Seiten der Bühne saß.
    Ich saß ihr gegenüber und sah erst mal nichts. Schwarze Haare, schwarzes Kleid, schwarze Augen – die Augenfarbe dachte ich mir aus, die stimmte gar nicht.
    Die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nein:mit schon an Unwahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit schönste Frau der Welt.
    Während der kompletten Vorstellung starrte ich zu ihr hinüber und sie, ich konnte es nicht glauben, zu mir. Vom Stück sah ich nichts. Ich sah durch das Stück hindurch, das Stück störte eigentlich nur, aber ohne das Stück wären wir ja nicht dagewesen. Und in der Zeit, in der die um unsere Liason nicht bekümmerten Schauspieler ihr Pensum absolvierten, verliebte ich mich in sie. Ich weiß noch, wie manch Augenaufschlag und der feindselige Schatten einer Haarsträhne mir gelegentlich schwer zu schaffen machten.
    Nach der Vorstellung – in der Pause hatte ich nicht den Mut dazu – sprach ich sie an.
    Ich fragte sie, ob sie zu dem Stück gehöre.
    Sie verneinte erstaunt.
    Dann, sagte ich, müsse ich mich bei ihr entschuldigen.
    Sie fragte, warum.
    Ich tat, als überlegte ich kurz, und lieferte dann die zuvor zurechtgelegte Begründung: Ich hätte die ganze Zeit nur zu ihr geschaut in der, wie ich jetzt zu meiner Beschämung feststellen müsse, irrigen Annahme, die Aufführung drehe sich nur um sie. Doch wenn das bedauerlicherweise nicht der Fall gewesen sei, würde ich mich für meine Aufdringlichkeit entschuldigen und anbieten wollen, sie zu einem Glas Wein einzuladen, als Wiedergutmachung.
    Ich glaube, daß ich mich wirklich so ausgedrückt habe.
    Und sie sagte zu meiner größtmöglichen Verwunderung und Begeisterung einfach: »Sehr gern.«
    Wir tranken einen Wein und noch einen. Sie war Schülerin in München, Abitur, letztes Jahr, interessierte sich für Schauspiel – ich Lehrling, erstes Jahr, natürlich auch mit superstarkem Schauspielinteresse. Wir redeten über alles und sogar über nichts, und zwischendrin saßen wir da und schauten uns etwas verlegen an.
    Um 24 Uhr mußte sie über die Grenze. Am nächsten Tag trafen wir uns wieder. Ich ging mit ihr durch die Straßen im Prenzlauer Berg. Sie sagte, es rieche überall nach Braunkohle, das fände sie sehr romantisch, und ich fand es auch romantisch, nicht die Braunkohle, sondern mit ihr. Wir liefen quer durch die Stadt und wieder zurück, klapperten alle Orte ab in Berlin, die ich ihr unbedingt zeigen wollte, meine Wohnung, das Spreeufer, mein Lieblingscafé, besuchten auch ein paar Freunde, es regnete, es war kalt, es war schon dunkel, und wir spazierten gerade irgendwohin Richtung Scheunenviertel, als sie fragte, was

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