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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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vorschlagen, Leute wie Schnatz dürften für den Rest ihrer Tage nur noch in diesem von ihnen kreierten Krüppel-Sprech reden. Jeder wüßte gleich Bescheid, es gäbe öfter was zu lachen.Lianes Briefe an mich. Lianes Briefe. Liane.

    Ich war wie eine Kompaßnadel von ihr magnetisiert, nur andersherum. Schiefes Bild, ich weiß und laß es trotzdem stehen. Egal, wo ich mich befand, schaute ich zuerst, wo Süden ist, Südsüdwest, ich habe es nachgeschlagen und ausgemessen, genau: 48 Grad, neun Minuten, 13,94 Sekunden nördliche Breite. Ich schaute immer, ob der Blick frei war, ob es eine Lücke gab zwischen den Häusern, und dann schaute ich zu ihr, denn in dieser Richtung, da war sie, in München.
    A BSPRACHE ERWÜNSCHT
    In München: du.
    Ich: in Berlin.
    Hätt nichts dagegen,
    Mal umzuziehn.

    Ich wär bei dir.
    Eh du dich versiehst.
    Wenn du nicht zugleich
    Nach Berlin umziehst.
    Für Oberleutnant Schnatz ist unser Briefwechsel eine Fundgrube mit »objektiven Verstößen«, »feindl. neg. Inhalten«, »Verschleierung d. Verbind.«, »konkreten Republikflucht-Vorh.«. Das alles ist »aufzuklären«, »zu erfassen«, »weiter zu erfassen«, »zu verhindern«, »umfassend zu beseitigen« und natürlich wie stets »operativ zu bearbeiten«.
    Was das heißt, wird nach einigem Blättern klar. Alle Briefe gelangen nur auf dem Umweg über Schnatzens Schreibtisch zu mir. Leute werden abkommandiert, die mich besuchen und unter Alkohol setzen, um mir Gedichte zu entwinden. Bei der Stasiläuten acht Jahre die Alarmglocken, operative Maßnahmen laufen an, Hunderte von Türen gehen auf und zu. Der Apparat startet voll durch. Meine Zeilen werden durchleuchtet, eingeschätzt, durchgeprüft und ausgewertet, als wären sie verschlüsselte Aufmarschpläne der Nato, Angriffszeitpunkt: morgen früh.
    F ÜR DICH
    Für dich ist dies Gedicht geschrieben.
    Dafür sollst du mich einmal lieben.
    Dafür sollst du mich einmal küssen.
    Und nicht nur einmal, sollst du wissen.
    Und nicht nur küssen, meine Liebe.
    Ich denke auch an andre Triebe,
    Die, weißt du, weiter südlich liegen.
    Ich dichte nur. Um dich zu kriegen.
    Die Verse und der Briefwechsel sind meine Legende. Damit werde ich zum Staatsfeind erfunden. Oberleutnant Schnatz analysiert und meldet etwas ratlos durch: »Offenbar ein Liebesgedicht. Maßnahmen: Liebesbeziehung des W. auswerten u. operativ weiter unter Kontrolle halten.« Ihn stört nicht, daß es gar nichts auszuwerten gibt. »Weiter südlich« wird dick und schwarz unterstrichen und daneben geschrieben: »Operativ bedeutsam, mögl. chiffrierter Hinweis zu Plänen des W., mit KP nach Portugal zu gehen, objektiv zu IM-Berichten.« »KP« heißt Kontaktperson. Schnatz hat nichts anderes und ist angewiesen auf Ausdeutungen von Andeutungen, die allerdings mit einer Subtilität aufgespürt werden, die nur einmal in den Heuhaufen hineingreifen muß, um die Stecknadel in der Hand zu halten.
    München, 22.10.82
    Mein liebster W.,
    vor fünf Minuten erreichte mich Dein Brief, der sehr verzweifelt klang. O nein, Liebster, Du darfst nicht aufgeben. Das schreibe ich Dir, obwohl ich
selbst so traurig bin. Nur wenn die Sonne die Farben der Blätter noch mehr leuchten läßt, wenn ich den kalten Wind im Gesicht und die Kälte an den
Füßen spüre, weiß ich noch, daß ich lebe. W., mein liebster W., ich denke so sehr an Dich. Ich hoffe so sehr, daß die ›Gruppe 61‹ Erfolg hat!
    Jeder Brief erreicht mich tief in meinem Herzen. Das ist ein schöner Schmerz. Ich weiß dann jedesmal, ich liebe Dich so sehr. Deine L.
    Berlin, 2.11.82
    Liebste L.,
    Du bist leider nicht hier, und die Decke fällt mir auf den Kopf. Von ziemlich weit oben. Ich glaube, sie ist aus Beton. Und über der Decke sind
leider, wie ich sehe, weitere Stockwerke: diese Elektriker-Lehre, die ich hasse, meine Eltern, die nerven, und weiter oben die Armeezeit. Das alles
prasselt jetzt auf mich herunter. Bitte verzeih, im Moment weiß ich nicht, wie ich das alles schaffen soll. Lehre, Abendschule, Armee, Studium. Zehn
Jahre Mist, zehn Jahre Krempel, zehn Jahre Unfug, zehn Jahre Warten. Nur um dann wieder ganz am Anfang zu stehen. Von irgendwas. Ich kann mich nicht darauf freuen.
    Die ›Gruppe 61‹ hat hier bereits einiges erreicht und bewirkt. Aber es reicht nicht.
    Wenn Du nur hier wärst, Liebste, alles wäre anders. Die Decke wäre nicht vorhanden. Die Decke wärst Du. Bitte fall! Fall auf meinen Kopf.
    Wann kommst Du? Nächstes Jahr? Im Herbst? Vielleicht?
    Ich werde

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