Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
dessen Bedeutung sie zwar a) nicht erkennt, b) deshalb gründlich mißversteht und folgerichtig c) ebenso phantasievoll wie paranoid denunzieren muß. Aber immerhin.
In einem »Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle« lese ich: »Der W. bringt in Form von Gedichten eine ablehnende Haltung zu bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen zum Ausdruck und verbreitet diese in seiner Umgebung. So in dem durch IMS sichergestellten Gedicht ›Niemandslied‹, das eine Verleumdung und Diffamierung der revolutionären Errungenschaften darstellt, den sozialistischen Alltag verhöhnt und sogar vor Tierblutmetaphern nicht haltmacht.«
Das Gedicht, das in meiner Erinnerung so verschollen war wie der Geschmack des Weins, den ich bei der Niederschrift vermutlich trank, geht so:
N IEMANDSLIED
Auf- und abschwellender
Lärm ist der Tag
Mattes Licht Schweiß
Gesundheit Gelaber Gewäsch
Zerknülltes Käsepapier
Kinder Kampf Revolution
Korkbrösel kackende Taube
Und Flaschen mit Stierblut im Kühlschrank
»Stierblut«, der Name eines DDR-Weins. Für die Stasi ist es eine Tierblutmetapher. Wenigstens ein Anhaltspunkt. Keine Ahnung, ob er war, wie er hieß. Sowohl die Stasi als auch der Lyriker verabsäumen eine konkrete Überprüfung und Feststellung der Personalien dieses Weins.
Wonach schmeckte das Zeug? Nach Blutwurst?
6
I CH WÄRDE GERN OPTIMISTISCHER in die Vergangenheit schauen, vor allem in die eigene. Aber leicht ist das nicht, ständig gibt es Abwanderungsbewegungen. Dinge, die einfach verschwinden, einzelne Sätze, Gespräche, für immer gelöscht, komplette Nächte verschollen. Die Leute verlieren nicht nur Haare, sondern auch Namen und Gesicht. Es gibt Personengruppen von der Größe einer Kleinstadt, die niemals wieder auftauchen, für alle Zeit verduftete Augenblicke, Küsse, Schatten, Zahnschmerzen – das alles ist, mal ganz unpathetisch resümiert, nicht ohne weiteres greifbar.
Die Dinge dagegen, auf die es überhaupt nicht ankommt, sind in der Regel immer da: Fotos mit gespenstisch-fremden Standbildern, ominöse Familienbestecke, Schallplatten, seit Jahrzehnten staubumfangen, Hauslatschen des vor zehn Jahren verstorbenen Großonkels, Schubladen voller Krempel, der vor sich hin dämmert, dümpelt, döst, Koffer mit verrosteten Schlössern ohne Schlüssel und Uralt-Standuhren, die treuherzig Gong machen.
Und Papiere natürlich. Papiere aus einem anderen Leben.
Kopien, genauer gesagt, kaum lesbare, fast schwarze, mit einem Zentimetermaß am unteren und seitlichen Blattrand versehen, Kopien von Briefen, Briefen über Briefen, Briefen mit der süßen, mir so vertrauten Handschrift, Liebesbriefen, Liebeserklärungen, Karten mit Liebesgrüßen, Fotos mit Lippenstiftmund.
Beim Nachzählen im Aktenstapel sind’s 169 Briefe von ihr,180 von mir, geschrieben zwischen 1980 und 1989, mitgelesen, gegengelesen, geprüft, berührt, begafft, kommentiert von der Stasi – von der Unterwäsche-Patrouille, angeführt von Oberleutnant Schnatz.
Ich hätte mir charmantere Mitleser gewünscht als den Spanner vom Innendienst. Das Fatale in der DDR war leider auch, daß man sich seine Spitzel nicht aussuchen konnte. Am meisten stört, daß dieser Schnatz die Briefe, ihre Briefe, sogar noch vor mir gelesen hat. Wie habe ich gewartet und gelitten, ich bin krank gewesen, wenn länger kein Brief von ihr kam. Ich habe den Briefkasten unten im Haus mindestens so überwacht wie die Stasi mich. Inklusive der Nachbarbriefkästen, falls da versehentlich ein Brief gelandet sein sollte. Inklusive der Briefträger. Inklusive des Wegs, den die Briefträger zurücklegten, bis sie zu mir kamen, und den, den sie anschließend einschlugen.
Und während ich vor Ungeduld, Ungewißheit und Sehnsucht vor dem Briefkasten auf und ab patrouilliere wie ein unter Hospitalismus leidendes Tierpark-Gnu vor den Gitterstäben des Käfigs, sitzt bei der Stasi ein Typ namens Schnatz, greift sich in aller Seelenruhe die nur für mich bestimmten Briefe, öffnet den Umschlag über Wasserdampf und betatscht die für mich so kostbaren Papiere, um sie danach in das steindumpfe und staatsdumme Behörden-Kauderwelsch des Ministeriums für Bespitzelung Minderjähriger zu übersetzen.
»Festst. ideolog. Beeinfl. Erkennen und Beseitigen begünst. Beding. u. Umst. für feindl. neg. Wirken des W. Aufklären u. Bearb. d. Charakt. v. Liebesbez. zu Freundn. im NSA.«
Ich bin kein Mensch, der sich in Bestrafungsphantasien ergeht. Wäre ich einer, ich würde
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