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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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wir als nächstes tun würden.
    Ich sagte: »Ich schlage vor, daß wir uns küssen.«
    Sie blieb stehen. Ich ging wie in Gedanken versunken ein paar Schritte weiter und drehte mich dann zu ihr um.
    »Vorausgesetzt«, ergänzte ich, »es findet sich eine Mehrheit für diesen Vorschlag.«
    Ich weiß noch, sie hatte ein Tuch um den Hals, das sie um uns beide schlang und unter dem wir verschwanden. Wenn es nach mir gegangen wäre, für immer. Sie hätte meinetwegen aus Australien kommen können, aus Island oder von der Venus, es war mir egal. Hauptsache, sie war da. Und ging nicht mehr weg.
    Als wir uns am Grenzübergang Friedrichstraße wieder verabschiedeten, überließ sie mir das Tuch, und es duftete nach ihr. Mir war, als sei jemand gestorben. Eine nahestehende Person, wahrscheinlich ich selber. Und eine noch näherstehende Person, deren Tod ich sterbend gerade noch mitbekam, ihren.
    Romeo und Julia.
    Julia und Romeo.
    Mit zwar keineswegs verfeindeten Familienclans im Hintergrund, aber doch mit penetrant über Kreuz liegenden Feindesländern.
    Sie auf dem Balkon, einem Podest an der Absperrung – ich vor der Glastür, nicht singend. Eine Lerche war nicht da.
    Sie langsam verschwindend im Gang, ihre Silhouette in der Tür, weg war sie – ich leider nicht weg.
    Ich haßte nicht die Mauer, ich haßte nicht die DDR. Ich haßte nicht den Kalten Krieg, nicht die Nazis, die letzten Endes die Schuld an der deutschen Teilung trugen. Ich haßte nicht die Deutschen, die zu doof waren, ein ganz normales 0815-Volk zu sein. Ich haßte gar nichts. Ich war nur tot, eine Zeitlang jedenfalls.
    Ein ganzes Jahr sahen wir uns nicht. Aus ihrem Tuch habe ich in der Zeit jedes einzelne Geruchsmolekül persönlich aufgesogen. Es roch am Ende nach mir. Viele Briefe gingen hin und her, manchmal schrieb ich jeden Tag, und wir waren verliebt, und wir verliebten uns in unsere Briefe, und ich fing an, Gedichte zu schreiben, einfach um mitzuhalten mit ihrer Schönheit, die plötzlich in mir aufgetaucht war.
    R OMEO UND J ULIA , ALS B RIEFFREUNDE VERKLEIDET
    Ich hatte dich nicht erwartet.
    Da warst du plötzlich hier.
    Und als du gingst, da war es
    Praktisch geschehn mit mir.

    Wie abgemacht war nichts.
    Die Dinge warn verschwommen.
    Und daß es dazu kam,
    Dazu sollte es nicht kommen.

    Wie soll ich sagen, alles
    War unerforschtes Gebiet.
    Ich wußte nie, was zu tun ist.
    Du wußtest nicht, was geschieht.

    Du schliefst mit meinen Briefen.
    Ich ging mit deiner Schrift.
    Dann stießen wir an Grenzen,
    Was die weitere Forschung betrifft.
    Auch Schnatz war sprachlos, jedenfalls für seine Verhältnisse. Mal unterstrich er etwas am Rand, mal steuerte er nur ein Fragezeichen bei, mal heftete er die Seiten ohne Kommentar ab. So ein Oberleutnant ist auch nur ein Mensch und kann nicht ununterbrochen den Kindergarten observieren.
    Mal kam gar nichts, kein Brief, und der Briefkasten blieb leer trotz mehrfacher Prüfung am Tag – mal kamen gleich mehrere Briefe von Liane auf einmal am Tag. Sie waren immer wochenlang unterwegs. Ich dachte mir nichts dabei. Prinzipiell wußte natürlich jeder, daß es kein Postgeheimnis gab und alles bei Bedarf kontrolliert wurde. Aber ich war ja nun kein Raketenspezialist oder Geheimexperte, der irgendwelche Strontium-Angelegenheiten auszuplaudern gehabt hätte.

    Es war fast unvermeidbar, daß ich im Laufe unseres Briefwechsels zum BRD-Fan wurde wie sie zur Anhängerin der DDR. Sie fand alles gut oder »immer besser« im Osten als bei sich zu Hause. Daß die Leute hier noch »echt« seien, daß man sich »schöner« unterhalten könne, daß »so gut wie nichts« käuflich sei, daß man die Fassaden der Häuser weniger mit Reklame »verunglimpfe«, überhaupt daß die Farben nicht so »schockierend bunt« seien, sondern »angenehm dezent grau«, und daß ich, anders als die »Macker« in München, nicht nur »ein gewisses Etwas« hätte, sondern wirklich »was«, und zwar mit ihr.
    Ich rechnete die unfreiwilligen Vorzüge meines Landes eher zu seinen besonders reizlosen Seiten und hätte meinerseits auch gern vergleichende Gegenbesichtigungen unternommen, aber das ging ja nun nicht. So schlecht und grauenhaft, wie sie immersagte, konnte München gar nicht für mich sein, weil sie da herkam. Selbst wenn dieses München nur ein trostloses und sogar von Hunden gemiedenes Hundeklo an einer desolaten Autobahnraststätte gewesen wäre, ich hätte es, wegen der selbstverständlichen und alltäglichen Nähe zu ihr, stark gepriesen

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