Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
und unendlich adoriert.
Der Osten war für sie jener Typ, der sie auf einem Tagesausflug in ein Landhaus einlud, dort angekommen aber feststellen mußte, daß er den Schlüssel vergessen hatte und sich dann in unbekümmerter Verzweiflung durch einen über dem Kellerfenster auftürmenden Kohlenhaufen arbeitete, immer weiter grabend und rumpelnd völlig darin verschwand, um etwas später, von Kohlenstaub umglänzt, wie er war, zwei Gläser Wein in der Hand, von innen die Tür zu öffnen und sie gleich direkt und überall zu küssen, bis praktisch alle Kleidungsstücke, die sie trug, und sogar die, die sie darunter hatte, die besonders, schwarz verschmiert waren und unbedingt ausgezogen werden mußten – ich.
Und der Westen? Für mich? Nun, zunächst mal das verbotene Land, die andere Welt, die es eigentlich nicht geben dürfte, wo zwar alles, den Fernsehbildern und Berichten zufolge, schöner, schicker, aufregender war, wo die Leute zwar selbstbewußter, höflicher, eloquenter auftraten, aufzutreten schienen, wo zwar die Post richtig abging, Mord richtiger Mord war, Drogen richtige Drogen, Skandale richtige Skandale, Musik richtige Musik, wo aber die Meute, die ich durch die große graue Eisentür am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße kommen sah, vor der ich manchmal stundenlang auf Liane wartete, auf mich so überdurchschnittlich langweilig und so uninteressant wirkte, wie sie war, so überflüssig auch und so zeitraubend, denn jeden einzelnen und jede einzelne starrte ich an und musterte ich, um, ja, sie nicht zu verpassen, Liane, was natürlich Quatsch war, denn ich sah sie gleich, ich sah sie sofort, ich sah sie, bevor ich sie sehen konnte, ich erkannte schon am Schwung der Tür, denich mir natürlich einbildete, den es aber doch gegeben haben mußte, daß es nur eine sein konnte, die jetzt kam – sie.
Sie schickte mir Platten und Bücher, und die fand ich allemal aufregender als die quasi vergleichbaren Quasinummern aus den überschaubaren volkseigenen Buch- und Plattenbeständen.
Wochenlang starrte ich auf das Cover von »Wish you were here«. Bekanntlich sind zwei Männer darauf zu sehen, die auf einer Lichtung zwischen Industriehallen stehen und sich die Hand reichen. Einer der beiden, der rechte, brennt, Flammen schlagen aus seinem Anzug und auch aus seinem Kopf. Sie hatte eine Karte dazugelegt und mit ihrer wundervollen Schrift geschrieben:
München, 21.12.87
Liebster, ich liebe Dich übrigens. Aber wer von den beiden bist Du eigentlich? Überlege es Dir gut! Du hast zwei Versuche. Deine Dich liebende L.
Ich überlege bis heute. Bin ich dieser lodernde, hitzige, leidenschaftliche, sich in einem kleinen Privatfeuerwerk abfackelnde Typ? Der es allerdings, wie’s aussieht, nicht mehr lange machen wird. Oder bin ich der kühle Beobachter, der dem Leidenschaftlichen die Hand reicht, ihm scheinbar alles Gute wünscht? Der selbst aber lieber unangefackelt bleibt? Wurde ich von hinten angezündet? Suchte ich Hilfe, und alles, was ich von dem anderen bekam, war ein Händedruck? Handelt es sich um eine Abschiedsszene? Weiß der eine gar nicht, daß er brennt, während der andere es zwar klar sieht, aber höflich schweigt?
Berlin, 18.1.88
Liebe Liebste,
die Entscheidung ist ganz leicht. Ich werde sie irgendwann im Laufe meines Lebens treffen, wenn Zeit ist. Bis dahin bin ich sicherheitshalberbeide. Ich weiß, logisch ist das heikel. Aber was ist schon logisch? Zu vieles, sagst Du. Eben.
1001 Kuß!
Brennend eiskalt, Dein W.
Was tut Schnatz, unser Staats-Voyeur im Dauereinsatz? Er unterstreicht die Partie mit »logisch« und notiert mit sieben Ausrufezeichen daneben: »Zweifel an Logik!!! W. studiert Philosophie!!! Operative Beachtung!«
»Firma liest mit«, hieß es immer, »VEB Horch, Guck und Greif«, alles klar. Mir war das zu paranoid: Briefe mitlesen, Briefe abfangen, Brieftauben abschießen – ich lokalisierte das in einer märchenhaften Vergangenheit. Es schien mir auch zu aufwendig zu sein. Die werden anderes zu tun haben, dachte ich. Die können nicht die Briefe von allen lesen. Irgend jemand muß sie schließlich auch schreiben.
Für Liane lag die Vorstellung, daß der Staat ihre und meine Briefe lese, weit außerhalb ihrer Einbildungskraft. Sie war eher etwas abergläubisch. Wenn ich statt mit blauer Tinte mit schwarzem Farbband der Schreibmaschine schrieb, wenn irgendwelche Papierfalten durch bestimmte Buchstaben liefen, konnte sie manchmal nur mit Mühe düstere Vorahnungen beiseite
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