Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
schieben. Sie glaubte – etwas kokett, nicht wirklich – an die Wiederkehr bestimmter Zeichen. Keine schwarzen Katzen, die über die Straße liefen, keine Sternschnuppen. Es waren eher alltägliche Übersinnlichkeiten: Ein Stift, der nicht mehr schrieb, ein Ohrring, der plötzlich verschwand oder wieder auftauchte, ein bestimmtes Wort, zufällig aufgeschnappt in der U-Bahn, konnten sie tagelang – sie behauptete, jahrelang – aus der Bahn werfen. Ein Brief von mir, der unerwartet aus der Zeitung fiel, natürlich auch.
Daß die Stasi mitlesen könnte, erschien uns beiden zuunpoetisch. Auf einer unserer raren Begegnungen verabredeten wir trotzdem einen Test. Bei Tucholsky, glaube ich, hatte ich die kleine Erzählung entdeckt, in der ein Mann einen Floh in den Briefumschlag steckt, um so den unerwünschten Mitleser zu entlarven. Eine gute Idee, fand ich, und wir griffen sie auf.
Berlin, 12.2.85
Liebste, allerliebste L.,
ich sehne mich so sehr nach Deinen Briefen, daß ich gestern mein Glück nicht fassen konnte, gleich drei auf einmal von Dir zu
bekommen. Der eine war vom 6. Januar, der andere vom 13., der dritte vom 4. Februar. Offenbar hast Du meine Briefe in der Zwischenzeit nicht
bekommen. Wo die wohl abgeblieben sind?
Lehre und Abendschule habe ich jetzt abgeschlossen. Endlich. Dieser Teil meines Lebens liegt hinter mir wie die Wüste Gobi, und das
sage ich, obwohl ich noch nie in der Wüste Gobi war. Ich möchte auch nicht dagewesen sein. In ein paar Tagen beginnt die Armeezeit. Man sagt hier, man
geht »zur Fahne«. Ich glaube aber, daß damit der Alkohol gemeint ist. Wir können uns in dieser Zeit nicht schreiben. Wir können uns nicht
sehen. Wir können überhaupt nichts. Was Portugal angeht, das ist für mich im Moment so weit weg wie Portugal.
Wenn Du aber wissen willst, wie tief meine Traurigkeit ist, muß ich Dir leider sagen, sehr tief. Der Baikalsee in Sibirien, habe ich
gelesen, ist über 1500 Meter tief. Da fängt meine Traurigkeit erst an. Einer der tiefsten Meeresgraben soll der Aleutengraben sein, der knapp 8 km
abwärts geht. Dort unten ungefähr ist meine Traurigkeit eingezogen. Wenn du sie sehen willst, such nicht da. Die Stelle soll erdbebengefährdet sein.
Hoffen wir auf Ergebnisse der ›Gruppe 61‹ …
Eine Bitte, Liebste: Leg keine Locke, aber leg ein Haar von Dir in Deinen nächsten Brief. Für mich. Ich werde mich an diesem einen
Haar festhalten müssen, wenn ich Hilfe brauche.
Ich küsse Dich, wie ich Dich nie mehr küssen werde,
Dein W.
Liane wußte, was zu tun war. Ihre Antwort erreichte mich einen Tag vor meiner Einberufung zur Armee:
München, 28.2.85
Mein Liebster,
ein nebliger Wintertag geht hier zu Ende. In meiner Küche sitzend denke ich an Dich. Immer wieder ertappe ich mich bei Gedanken an
Dich. Ich höre Brahms’ 1. Sinfonie. Die Musik ist so überwältigend, daß ich das Herz bis an meinen Hals schlagen höre.
Für Deine Armeezeit mußt Du wissen, daß ich bei Dir sein werde. Deine Traurigkeit soll ruhig in den Aleutengraben einziehen. Meine
wohnt ja die ganze Zeit da. Endlich ist sie da unten nicht mehr so allein.
Mit mir fühle ich mich schon lange fast lebensunfähig. Ich möchte mich spalten in Hunderte Persönlichkeiten. Wie langweilig es
doch ist, nur mit mir! Es muß doch mehr aus dem Leben zu machen sein! Überlege es Dir gut, Geliebter, wenn Du zurückkommst. Möchtest Du wirklich
eine Verrückte treffen und sogar mit ihr nach Portugal?
Ich bin Dir ja so treu!
Deine L.
P.S. Schickst du mir, bitte, auch ein Haar, ein kurzes von Dir? Für mich?
Als ich den Umschlag öffnete, sah ich es sofort: schwarz, lang, etwas gewellt. Es sah aus wie ihrs. Ich hielt es hoch, mit spitzen Fingern, es fiel steif herab und bewegte sich überhaupt nicht. Im Gegenlicht schien es, als wäre da, wo es hing, ein Riß in der Welt.
Dann ließ ich es angewidert fallen.
Liane, meine geliebte Liane, hatte, wie ich wußte, keins beigelegt.
7
I CH SPIELTE IN DIESEN LETZTEN J AHREN DER DDR mit Freunden öfter Billard – warum, weiß ich nicht. Einfach so. Weil wir etwas tun mußten. Karambolage. Das war schwieriger, als man heute denkt, denn im Osten Berlins gab es vielleicht eine Handvoll Tische. Ewig fuhr man durch die Stadt, ewig wartete man auf die S-Bahn, auf die U-Bahn, wartete auf den Schienenersatzverkehr, und wenn man endlich ankam, zum Beispiel in der »Klubgaststätte Druschba«, weit draußen in Marzahn, im Berliner Osten, dann, ja dann war der Tisch
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