Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
mich unvorstellbar war. Aber es ging nicht nach mir. Studieren konnte ich erst einmal nicht. An den Universitäten gab es kaum Plätze, zumal für Philosophen. Nichtstun war in der DDR, diesem Land der sehr begrenzten Möglichkeiten, verboten und als asozial verfemt. Also mußte ich nach dem Schulabschluß irgendeine Lehre aufnehmen.
Die Entscheidung, zu werden, was ich nicht werden wollte, fällte ich in weniger als fünf Minuten in einem sogenannten »Berufsberatungszentrum«, wo gerade Elektromonteure gesucht wurden.
»Tja, hm, was könnten Sie bei uns machen«, sinnierte der Berufsberater, »wie wär’s mit Elektromonteur?«
»Warum nicht?« sagte ich. Das war alles, das war’s dann, das war das Einstellungsgespräch.
Das erste halbe Jahr standen wir in einer Reihe am Schraubstock und feilten. Ich hatte während dieser Zeit ausgedehntesomnambule Phasen. Während die Hände sich hin und her bewegten und ich rein körperlich an der Werkbank stand, schwebten meine Gedanken stunden-, tagelang im Abseits umher. Es war die Zeit, als ich Liane kennenlernte und an Gedichten und Briefen für sie feilte. In der Akte wird live darüber berichtet.
berlin, 14.12.82
meine liebste geliebte,
im allgemeinen tauwetter sammeln sich hier undurchdringliche pfützen, und ich bin zum sprung bereit
aber der weg, ich weiß ihn nicht mehr
es gibt keinen weg
rilkes sehnsucht war: wohnen im gewoge und keine heimat haben in der zeit
meine sehnsucht ist: jenseits des gewoges, aber in der zeit
bzw. bei dir
so leid es mir für rainer maria tut
ich stehe jetzt den dritten monat am schraubstock, um bleche zu feilen
ich habe das gefühl, ich feile an meinem verrücktwerden
dieses gedicht habe ich heute verbissen in ein eisending hineingearbeitet:
AM SCHRAUBSTOCK
zur falschen zeit am falschen ort
tu ich das falsche, wie ich seh
ich feile, ich feile
wär gern bei dir, wär gerne fort
mit dir natürlich, schönste fee
ich feile, ich feile
ich feile, weil wir feilen müssen
vielleicht bis zur versenkung
ich feile, ich feile
ich schlage vor, daß wir uns küssen
mal ohne zeitbeschränkung
ich feile, ich feile
liebste liane, zur zeit suche ich einfach den ausschalter
für mein leben
aber wenn es ihn hier irgendwo geben sollte, er würde, wie alles, sowieso nicht funktionieren
falls da in deinem münchen irgendwo ein gefährlicher grat sein sollte, falls eine spitze ecke von einem stück stahl den stachus blockiert, falls ein
grob abgesägtes stück rohr riskant über den englischen garten ragt – sag bitte bescheid
dein dich wie verrückt vermissender w.
»Bei W. handelt es sich um einen intellig. Menschen«, vermerkt Oberleutnant Schnatz im »Einleitungsbericht zum Anlegen der OPK – Deckname ›Spiegel‹«. Das ist kein Kompliment, sondern eine Gefahrenbeschreibung. »Allerdings sind Widersprüche zwischen seinem Verhalten in der Ausbildung und im Freizeitbereich erkennbar. Sichergestellte Gedichte an die Freundin im NSA lassen Zweifel am Lebensinhalt erkennen. Vgl. Gedicht ›Am Schraubstock‹, in dem neg. Grundhaltg. zu Teilbereichen d. soz. Gesellschaft deutlich werden. Im Rahmen der Kontrollmaßnahme ›M‹ wurde bekannt, daß der W. in Briefen immer wieder auf ironische Weise konkrete Republikflucht-Absichten äußert. So unterrichtet W. im Brief von 14. 12. 82, s. Anl. Dok. 000159, die KP indirekt von seinen Plänen, ins NSA überzusiedeln. Maßnahmen: Gewährleistung einer offensiven erzieherischen Einflußn., Durchführung weiterer Speicherüberprüf., Einschätz. d. Materials, Aufrechterhaltung Postkontrolle, Erarbeitg. v. Hinweisen zum Umgangs- und Verbindungskreis sowie Sonderrecherchen bei operativer Notwendigkeit.«Die Gegenwart von einst – nachträglich spukt sie immer noch herum in der Gegenwart von heute, fremd und vertraut zugleich, wie traumatisiert. Es sieht hier alles noch genau so aus wie vor dreißig Jahren, nur eben verlassen, menschenleer nach dem Vulkanausbruch der Wende. Von den Massen, die sich hier einst durchs Gelände wälzten, ist nichts mehr zu spüren. Die Großbetriebe – das Transformatorenwerk, das Kabelwerk, die Batteriefabrik und das Werk für Fernsehelektronik – sind Museen ihrer selbst, riesige Ausstellungshallen, die jetzt entkernt, entrümpelt und entseelt in spukhafter Ruhe vor sich hin dösen. Eine vergessene Mondlandschaft der Arbeitswelt, Mausoleen des Nichts, nur dazu da, ihre Fassaden schmutzige Schatten auf das entvölkerte Gelände werfen zu
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