Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
stellen?« unterbrach Scheel sich selbst und meine Meditation im Weichbild von Nirvana.
»Ich wollte sagen«, sagte Moses, »kein Schwein weiß, was morgen sein wird. Gesetzmäßigkeit hin, Charakter der Epoche her.«
Der Professor schaute auf. »So, Herr Breuer? Schön, daß Sie offenbar wissen, was keiner weiß. Aber ohne Zukunft sind Sie tot. Oder steigen Sie in keine S-Bahn, ohne zu erwarten, daß Sie an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zukunft ankommen? Trinken Sie nichts, weil nicht ganz sicher ist, daß Sie Ihren Durst damit löschen können? Sagen Sie kein Wort, ohne davon auszugehen, daß jemand es hört?«
»Wie bitte? Was?« fragte Moses.
Wir lachten alle, der Professor schmunzelte kurz. Dann erklärte er in müdem Tonfall, daß natürlich nicht alle Zufälligkeiten und Kontingenzen Gegenstand der Dialektik sein könnten, sondern nur die wesentlichen Entwicklungsgesetze. Schon der große Philosoph Hegel habe sich einmal von einem Kollegen namens Wilhelm Traugott Krug aufgefordert gesehen, die Beschaffenheit ausgerechnet seiner, Krugs, Schreibfeder aus den allgemeinen Begriffen der Spekulation zu deduzieren. Hegel erwiderte damals, daß er zunächst die Gesetze des Kosmos, der Geschichte und die des Geistes bestimmen werde. Aber wenn später Zeit sei, werde er sich vielleicht auch Krugs Schreibfeder annehmen. Das, sagte Scheel, sagte Hegel, sei albernes Denken, das unter dem Horizont der Philosophie bleibe.
Das sah ich, einigermaßen erwacht, nicht so.
»Mal ist es eine Schreibfeder, mal ein Rasierapparat, mal ein Spaziergang, mal ein Eisenbahnwaggon, der eine Rolle spielt«, sagte ich. »Wußte denn Lenin, daß er, nachdem er in einem verplombten Waggon durch Deutschland Richtung Rußland verfrachtet wurde, die Revolution ausrufen könnte? Ahnte Rosa Luxemburg beim Bummeln am Landwehrkanal, daß der einmal ihr Grab sein würde? Hätte Marx prophezeit, daß man dereinst Fotos von seinem Bart durch die Straßen trägt?«
»Natürlich nicht«, ließ Moses sich wieder vernehmen, »sonst hätte er sich ja rasiert!«
Die kleine Debatte, zehn oder zwanzig Jahre früher geführt, hätte unangenehme Folgen haben können. Doch Ende der achtziger Jahre, zumindest in Berlin, war alles halb so wild, halb so streng und konnte, manchmal, auch charmant sein. Sogar die Stasi stellte auf Durchzug. Während meine Briefe und Gedichte abgefangen wurden, als handelte es sich bei ihnen um Raketenpläne oder Geheimpapiere aus Honeckers Nachtschrank, neigtesie beim Thema Philosophie zu Desinteresse. Dabei hätten sich hier sehr verdächtige Figuren wie Demokrit und Sextus Empiricus als Tarnnamen für konterrevolutionäre Pläne und Libertinage geradezu angeboten, um von der Stasi aufgeklärt zu werden. Es gibt in der ganzen Akte nur eine einzige Notiz, angefertigt von einem gewissen IM »Klaus Berger«. Die allerdings ist aufschlußreich:
»Der W. und (Name geschwärzt) fallen in den Seminaren durch arrogantes Verhalten und provozierende Rückfragen auf. Dabei ziehen sie immer wieder bewußt die Grundlagen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung ins Lächerliche und Absurde. So erklärte (Name geschwärzt) öffentlich, die ganze Richtung unserer Entwicklung passe ihm nicht, und behauptete, Marx hätte sich rasieren müssen, wenn er gewußt hätte, daß seine Porträts auf den Demonstrationen der Werktätigen getragen werden. Von seiten der Lehrkräfte wird in nicht ausreichendem Maß Einfluß auf das schädliche Verhalten der beiden genommen. Es wird erzählt, sie planen in der nächsten Woche eine philosophische Aktion zur Ehrenrettung der Dialektik. Sie wollen öffentlich einen Füllfederhalter direkt aus dem Charakter der Epoche ableiten. Den genauen Ort und die Zeit dieser Aktion habe ich noch nicht in Erfahrung bringen können.«
Oberleutnant Schnatz vermerkt nüchtern: »Berichterstattung kann als objektiv eingeschätzt werden. Inf. ist op. bed., öffentl. Herabwürdigung des Begründers der komm. Weltbewegung. Maßnahmen: Verarbeitung Inf. in OPH, weiterer Einsatz des IM ›Klaus Berger‹, Auftrag und Verhaltensrichtlinie: durch vertrauliche Gespräche mit W. an Informationen über Ort und Zeit der geplanten Aktion kommen.«
Hegels oder vielmehr Krugs Schreibfeder-Anekdote hatte sowohl Moses als auch mich sofort stark gefesselt. Das schien mal eine echte Aufgabe zu sein, eine Herausforderung: die Ableitungeines banalen Alltagsgeräts aus den allgemeinen Prinzipien der Philosophie. Natürlich war
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