Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
diese gleichsamfinale, postrevolutionäre, postkoitale Tristesse der Sinnleere, also einer Befreiung ins Nichts, die die DDR ausmachte und die hier schonungslos vorgeführt wird.
Dieses Bild ersetzt ganze Geschichtsbücher. Es ist alles drin. Und nichts wird beschönigt.
Auffällig und bemerkenswert ist nämlich auch, daß keine der Figuren dieses Ensembles allein gelassen wird. Alles findet in einem Raum statt, sogar der Sandkasten ist dabei, wenn auch schräg nach oben gekippt, so daß man fürchten muß, er könnte gleich aus dem Rahmen fallen. Alles bleibt drinnen, nichts dringt nach draußen, jede und jeder steht fest an seinem Platz, auf seinem Posten, in einer jederzeit überschaubaren Anordnung. Und überall ist jemand, der aufpaßt. Sei es gelangweilt links vor der Tafel die Inoffizielle Mitarbeiterin in der roten Bluse, sei es die Mutter hinter dem Sandkasten, sei es die stehende Parteisekretärin am Tisch, die streng darauf achtet, daß niemand wegdämmert, oder sei es die Frau vor dem Bücherregal mit der sogenannten Zeitung, die nur aus weißem, unbedrucktem Papier besteht und offenbar allein der Tarnung dient. Das würde einiges erklären, unter anderem auch das Schweigen im Bild, das Aneinander-Vorbeisehen, die ausdruckslosen Gesichter, denen niemand etwas anmerken soll.
Ein Werk im Stil des sozialistischen Realismus also? Das gerade nicht! Irritierend ist schon die Vielfalt der Richtungen, in welche die Schatten in diesem Bild fallen. Bei den Stühlen scheint das Licht von rechts vorn zu kommen, im Garten senkrecht von oben, bei der Trennwand in der Bildmitte von rechts hinten, beim Sandkasten von links. Manche Figuren wie die Kinder werfen überhaupt keinen Schatten, andere gleich zwei. Bei der Frau in gelber Bluse, am Kopfende des Tisches, wird der Körper von vorn, die Arme hingegen werden von hinten beleuchtet. Stümperei? Angewandter Dilettantismus? Sehr verwirrend jedenfalls, doch nicht ungewöhnlich. Gemälde mitdoppelten Schatten haben die Kunstgeschichte hinter sich. Kein Geringerer als Goethe ist es, der im Namen der Freiheit des Künstlers, des großen Künstlers wohlgemerkt, die Schattenwillkür verteidigt. Die berühmte Schattendebatte am Anfang des 19. Jahrhunderts trägt sich, unbemerkt vom Rest der Welt, in den Gesprächen zwischen Goethe und Eckermann zu. Goethe legt ihm am 18. April 1824 einen Stich vor, Rubens’ »Rückkehr von der Arbeit«, eine Landschaftsszene nach Sonnenuntergang, mit Schafen, Pferden, Heuwagen, Bauern und Arbeitern. Eckermann ist sehr überrascht, als er feststellen muß: »Aber wie … die Figuren werfen den Schatten ins Bild hinein, die Baumgruppe wirft den Schatten dem Beschauer entgegen? – Da haben wir ja das Licht von zwei entgegengesetzten Seiten, welches aber ja gegen alle Natur ist!« Und Goethe? Was antwortet er, und was hätte er auch angesichts des Kantinen-Wandbilds, vor dem ich stehe, geantwortet? »Das ist eben der Punkt … Das ist wodurch sich Rubens als groß erweiset und an den Tag legt, daß er mit freiem Geiste über der Natur steht und sie seinen höheren Zwecken gemäß traktiert … Allein wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sei höher als die Natur, so sage ich, es sei der kühne Griff des Meisters, wodurch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst der natürlichen Notwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eignen Gesetze hat.« – Der doppelte Schatten in Rubens’ Werk und, sagen wir, der dreieinhalbfache im Werk für Fernsehelektronik – das kann kein Zufall sein. Dieser Künstler besteht auf seiner Freiheit und pfeift auf jedwede Gesetzmäßigkeiten. Und mag das Licht des Sozialismus auch noch so hell erstrahlen: Wo viel Licht ist, da ist eben auch viel Schatten.
Aber halt! Nimmt nicht den mit Abstand größten Raum in diesem Bild der Garten ein? Pflanzen über Pflanzen, Blüten über Blüten – alles in Überfülle. Merkwürdigerweise ist, was da wächst und sprießt, allem Anschein nach orientalischenUrsprungs. Die Bäume im Hintergrund könnten Feigen- oder Granatapfelbäume sein oder vielleicht Lorbeerbäume – allein, die wuchsen auch im DDR-Sozialismus nicht vor der Haustür. Ein kleiner, verzweifelter Fingerzeig, daß das Paradies woanders ist? Versteckte Kritik an der nicht vorhandenen Reisefreiheit? Ein Werk der Anklage, ein Aufstand des Gewissens, ein Appell an die Mächtigen, das eigene Volk nicht in den grauen Käfig der Alltagswelt einzusperren? So könnte man das
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