Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
uns klar, daß wir durch reines Denken oder Grübeln niemals eine Schreibfeder würden aus dem Nichts hervorbringen können. Aber deshalb wollten wir das Problem nicht sich selbst überlassen. Wir mußten es, überlegten wir, irgendwie abwandeln.
»Aus dem Charakter der Epoche«, faßte Moses die Problemstellung zusammen, »wenigstens was zum Schreiben ableiten – das sollte doch zu machen sein.«
Wie wir schließlich darauf kamen, ich weiß es nicht mehr genau. Wir erwogen anfangs, ein Hegelporträt mit einem DDR-Füllfederhalter der Marke »Heiko« zu malen oder wenigstens ein Exemplar dieses Schreibgeräts in Hegels Ruhestätte auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zu vergraben. Aber dann fanden wir, das beste wäre es doch, wenn wir eines dieser Wandgemälde mit Szenen aus dem sozialistischen Leben nähmen und dort unauffällig eine Schreibfeder – eben die von jenem Wilhelm Traugott Krug – oder besser, zeitgemäßer und bescheidener, einen Bleistift hinzumalten.
»Sozusagen nachträglich«, meinte Moses, »aber das versteht sich ja von selbst.«
Eine Riesenidee. Wandgemälde gab es in der DDR unzählige. Auf ihnen sah man in der Regel Symbole der Arbeit, Werkzeuge, Zeichnungen, Zirkel, Sonnenaufgänge vor Traktoren, im Wind schlackernde Fahnen, von links unten nach rechts oben strebende Massen und jede Menge Werktätige, die sich bedeutungsvoll umstanden. Die meisten dieser Gemälde hingen ziemlich weit oben an Hausfassaden oder befanden sich in nicht ohne weiteres zugänglichen Foyers von Betrieben, Kasernen, Krankenhäusern. Am »Haus des Lehrers« hing so ein Bild, im Außenministerium oder in der Kongreßhalle am Alex. Traktoristen und Stahlkocher, Frau mit Säugling vor blühendem Apfelbaum, auf Arbeiterfäusten rastende Friedenstauben – eineSchreibfeder oder ein Bleistift wären da sicher irgendwie unterzubringen gewesen, aber sicher nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten.
Da entsann ich mich eines Wandgemäldes, das ohne Probleme zu erreichen sein dürfte: in der Kantine des Werks für Fernsehelektronik. Dort hatte ich nach der Schulzeit meine Lehre absolviert. Das war der Durchbruch. Und ein paar Tage nach der kleinen Debatte im »Dia-Mat«-Seminar, zu Beginn der Nachtschicht, machten wir uns, Moses und ich, ausgerüstet mit Farben und Pinseln, auf den Weg.
1981, Anfang September, war ich das erste Mal hierher gekommen. Die Arbeit begann sechs Uhr vierzig und endete sechzehn Uhr zehn. Berlin-Oberschöneweide war damals ein kolossales Menschenklo. Tausende, Zehntausende Arbeiter wurden hier zu Schichtbeginn in den Orkus der am Spreeufer aufgereihten Maschinenhallen gespült. Die Straße war schwarz von Menschen. Autos hupten, Straßenbahnen kreischten, die Lokomotiven von Güterzügen pfiffen und bahnten sich einen Weg durch die Menschenmassen. Schwarze und graue Rauchwolken zogen um die Ecken.
Am ersten Tag, weiß ich noch genau, gab’s einen Rundgang durch alle Abteilungen. Wir, die neuen Lehrlinge, schoben durch die Hallen, Gänge, Keller, Lager – ein Paralleluniversum, eine gigantische Galeere mit Menschen an Fließbändern, Menschen an kreischenden Maschinen, Menschen mit Blechen, Menschen mit Rohren, Menschen mit Stangen, Menschen in Kitteln, Menschen in Blaumännern, Menschen mit schwarz verschmierter Haut, Menschen mit grau verfärbter Haut, umgeben von einem öligen Odem, einem Geruch von altem Eisen und Schweiß.
Morgens »Morgen« sagen, mittags »Mahlzeit« sagen, abends »Feierabend« sagen.
Der klappernde Zollstock in der Seitentasche der Hose.
Das Rumoren der Maschinen, das Zischen und Stampfen der sich über Etagen windenden Gestänge und Bänder, die schmutzigen Fenster, die Wandzeitungen mit den Porträts der Besten und daneben, verdreckt, zerfetzt, die Pin-up-Poster.
Die Lehre, die Arbeit, die Fabrik, dieses Gewühl von Zehntausenden von Menschen – das alles hätte unter anderen Umständen ein aufregendes Abenteuer sein können. Aber ich war sechzehn. Und ich hatte mich nicht gedrängt, diesen Beruf zu ergreifen, ja überhaupt einen Beruf. Meine Neigungen galten damals eher den Peri- und Neopathetikern. Weniger hielt ich von Töpfern und Tischlern. Ich wollte keine Kranken heilen, kein Kaufmann werden, kein Klempner, kein Koch. Die Wirklichkeit war mir fremd und sollte, wenn es nach mir gehen würde, fremd bleiben. Autoschlosser, Maurer, Zahntechniker und Zerspanungsfacharbeiter – welche merkwürdigen Berufe auch immer, sie alle standen für ein Leben, das für
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