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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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Alter Zeitungen lesen, in denen nichts steht, nicht einmal Todesanzeigen. Bemerkenswerterweise hat das Blatt, das die Dame rechts außen in den Händen hält, weder Buchstaben noch Bilder.
    Die abwesenden Männer sind im Krieg oder im Weltraum, sind Zigaretten holen gegangen oder abgeholt worden – jedenfalls kommen sie so schnell nicht wieder. Das Bild hat keine Tür, durch die sie hereinspazieren könnten. Womöglich tagt hier der Zirkel der verlassenen sozialistischen Ehefrauen, und dieStimmung ist dementsprechend bedrückend. Keine Tasse Kaffee, kein Glas Wein steht auf dem Tisch. Das alles wären nur Ablenkungen, die nicht funktionieren, die auch nicht mehr weiterhelfen. Nicht auszuschließen, daß sie alle, die sich hier versammeln, auf den gleichen Heiratsschwindler hereingefallen sind und sich jetzt stumm und betroffen gegenübersitzen. Und der Mann links im Bild? Das ist der Ermittler der Kriminalpolizei, der gerade eine Befragung vornimmt, um anhand der Angaben der letzten Opfer ein aktuelles Phantombild des Täters anzufertigen. Leider hat die Kripo nur einen unerfahrenen Berufsanfänger für diese Aufgabe abstellen können, der nicht in der Lage ist, einen einigermaßen passablen Kopf freihändig und ohne Millimeterlineal zu zeichnen.
    Ein Arrangement, das andeutet, daß auch im Sozialismus noch längst nicht alle Probleme gelöst sind, gerade für die Frauen, die immer noch zu leicht auf falsche Versprechungen hereinfallen. Die kleinbürgerliche Familienidylle, nach der sie sich sehnen, gibt es nicht mehr, wird es nie mehr geben.
    Andrerseits, natürlich, könnte der eklatante Frauenüberschuß womöglich auch darauf hindeuten, daß der Künstler hier seinen Horror vor der Emanzipation ins Werk gesetzt hat. Denn der einzige Mann, links außen, ist auch die einzige Person, die arbeitet, die agiert, die überhaupt etwas tut. Alle anderen Figuren des Bildes sind Frauen, die passiv abwarten und mit der Welt, die sie umgibt, nichts anfangen können, außer Kinder zu kriegen, gelangweilt zu schweigen oder preziös in der Zeitung zu blättern. Die sinnlose Anwesenheit, das Präsenzzeigen aus Prinzip – das ist das Ergebnis einer Politik, die Frauen in die Produktion zwingen will. So weit kommt es, will der Künstler uns sagen, wenn ihnen ohne jede Not Zugang zur Arbeitswelt verschafft wird. Wobei es den Anschein hat, daß die Frau in Blau, rechts außen, ohne Leidenschaft in ihrer Zeitung liest. Aber sie tut es. Andernfalls müßte sie nämlich die beiden Bücher lesen,die unaufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch liegen, aber das wäre ihr wohl zuviel des Guten.
    Verzückt gehe ich auf und ab vor diesem Bild, das zunächst einen eher öden und oberflächlichen Eindruck auf mich machte. Es läßt, weiß Gott, viele Fragen offen, obwohl es selbst nichts in Frage zu stellen scheint. Kein toter Hund liegt unterm Tisch, kein Vogel segelt vorbei. Alles ist in sich geschlossen, hermetisch abgeriegelt.
    Und wenn genau dies das Thema des Bildes sein sollte? Nämlich was passiert, wenn einmal alle Probleme gelöst, alle Fragen beantwortet sein werden? Verweist das Bild womöglich auf eine radikale Utopie, eine Vision des hier vor unseren Augen sich vollziehenden Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus? Die Hälfte aller Werktätigen ist schon befreit von der Trübsal der Erwerbsarbeit, aber eben auch freigesetzt von ihren impliziten Sinnstiftungen. Klar wird, daß mit der Abschaffung der Ausbeutung noch eine ganze Menge mehr abgeschafft wird. Die Lehrerin in der roten Bluse, sich selbst und ihrer Muße überlassen – sie könnte dem zuhören, was ihr Kollege sagt, aber warum? Ist es nicht schon das weiße Rauschen der Redundanz? Das Mädchen in Altrosa steht im Sandkasten herum, es hat sich ausgebuddelt. Da ist nichts mehr zu holen. Die Frau am Tisch hat sich erhoben, sie will eigentlich gehen oder etwas sagen, aber wohin und was? Die Dame in Grün ihr gegenüber nimmt nicht mehr teil, ihr Diskussionsbeitrag ist nicht mehr nötig, sie ist – in einem Sinne, wo das kommunistische und das ärztlich-attestmäßige Vokabular überraschend ineinander übergehen – »befreit« von Wortbeiträgen. Es gibt nichts mehr als die Simulation des Als-Ob. Als schönes Beispiel dafür steht wieder die Frau mit der Zeitung. Man sieht ihr an, daß das keine Rolle mehr in ihrem Leben spielt. Sie liest Zeitung wie ein Schauspieler im japanischen Kabuki-Theater, also rein rituell, Zeitung hoch und Blick irgendwie da reinhängen. Es ist

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