Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
sehr unbestimmt. Eine Zitterpartie mit unendlich vielen Möglichkeiten. Kein Mensch weiß, was kommt. Einen Sechser in der Lottoziehung von letzter Woche aber kann jeder haben. Die Vergangenheit ist das Paradies. Was war, wird wenigstens nicht mehr sein, und was gestern geschah, kann keinen großen Schaden anrichten. Andrerseits bietet es jedem freie Hand für kleine Ausschmückungen, Interpretationen, die alles in einem besseren Licht erscheinen lassen, Umdeutungen, Auslassungen, Verkürzungen, Verlängerungen – die Welt steht einem offen. Wer sie verbessern will, sollte sich an ihre Vergangenheit halten und von der Zukunft die Finger lassen.
So, wenn man will, ging, in groben Zügen, die Philosophie meines Freundes Moses, die ich, damals, nicht ganz uneinleuchtend fand. Moses hieß eigentlich Jan – Jan Breuer – und war wie ich Student der Philosophie im ersten Studienjahr an der Berliner Humboldt Universität. Ein Typ, der es den Professoren nicht gerade leicht machte. Er spielte, merkwürdig genug, leidenschaftlich Minigolf, aber nach seinen eigenen Regeln, drehte kleine Schmalspurfilme, die er stets rückwärts ablaufen ließ, und trug seine Kleidung grundsätzlich verkehrt-, also linksherum, nicht aus politischen Gründen, wie er beteuerte, sondern aus ästhetischen. Seine Philosophie, im Gegensatz zu Ernst Blochs »Das Prinzip Hoffnung«, das ihm nicht so ergiebig schien,nannte er »Das Prinzip Nachträglichkeit«. Die oftmals unterderhand angewandte Nachträglichkeit, glaubte er, sei die herrschende Philosophie aller Zeiten.
Er hatte unendlich viele Beispiele parat. Nachträglich wurden die banalsten Ereignisse zu Sternstunden der Menschheit, Wendepunkten der Geschichte oder Schicksalsmomenten des Lebens erklärt. Sei es die nachträgliche Umwidmung eines Gammlers und Sonntagsredners namens Jesus zum Sohn Gottes, sei es die nachträgliche Nichtvernichtung von Kafkas Werken, sei es die nachträgliche Einordnung der eben noch innig geliebten Freundin in die Reihe der unerträglichsten Personen, sei es die Entdeckung Amerikas, wo ein Orientierungsfehler von Kolumbus bis heute Anlaß ist, die Ureinwohner nachträglich als Indianer zu bezeichnen, sei es die geradezu exemplarische Arbeitsweise Stalins, der nachträglich die Bilder der einstigen Mitstreiter aus Gruppenfotos retouchierte, bis er selbst nachträglich wegretouchiert wurde.
Nachträglich war alles. Der Tod, sowieso, der immer nachträglich eintrete. Das Leben, das man nachträglich erst überblicke. Das Glück, das nachträglich als Glück überhaupt erst wahrgenommen werde. Die Liebe, die nur dazu da sei, um nachträglich verklärt zu werden.
»Und Sex?« fragte ich mal. »Der ist ja nun nachträglich nicht so großartig.«
»Der«, räumte Moses ein, »ist nachträglich schlicht unbegreiflich – und damit kein Gegenstand meiner Philosophie.«
Das Philosophiestudium in der DDR, das Studium der marxistisch-leninistischen Philosophie, war im Jahr 1987, als wir anfingen, kaum mehr als die übliche ruinöse, phrasenreiche Salbaderei – völlig verschult, politisch beargwöhnt und engstirnig justiert, im Grunde ein Partei- und Kaderstudium, das aber immer wieder von Irrläufern wie Moses und mir punktuellunterwandert wurde. Die Veranstaltungen waren oft drollig und bedrückend zugleich.
Montag früh, sieben Uhr, gab’s tatsächlich ein Seminar in »Dia-Mat«, in Dialektischem Materialismus – das muß man sich mal vorstellen, ich war um diese Uhrzeit unfähig zu mehr als zu atmen –, und zwar bei Professor Scheel, einem grauhaarigen Männlein, das jeden Satz mit leiernder und leider nie sich selbst, sondern immer nur alle anderen ermüdenden – manchmal fürchtete ich: abtötenden – Stimme vom Blatt ablas. Die Gesetzmässigkeit der historischen Entwicklung, der Fortschritt von einer niederen Gesellschaftsformation in die nächsthöhere, die Entwicklung der Produktivkräfte, Kampf und Einheit der Widersprüche, die immer wieder in neue Qualitäten umschlagenden Quantitäten, der Charakter der Epoche, das das Bewußtsein bestimmende Sein, der notwendige Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus – ein Eiertanz unförmiger Begriffe, den ich sehr schätzte, weil man dabei schön seine Gedanken weg- und über die wunderbarsten Felder schweifen lassen konnte.
»Die ganze Richtung stimmt nicht«, sagte Moses.
Das sagten damals viele. Aber Moses, wußte ich, sagte es nicht nur so dahin, sondern er meinte es auch.
»Sie wollten eine Frage
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