Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
lassen.
Die Pforte der Bildröhrenherstellung ist überraschenderweise besetzt, ich zeige den Stempel in meinem Sozialversicherungsausweis – letztes Datum: 15. 6. 1985 – und kann nach einem Nicken passieren. Das Werk hat mich wieder.
Auf dem Gelände: niemand, kein einziger Mensch.
Im Keller die heute wie damals unglaublich verdreckten Höhlengänge zu den Garderoben: leer.
Die verbogenen Metallschränke: offen.
Ein Grab ohne Leichen. Hallen wie Särge. Die Zeit steht. Kahle Wände, kahle Flure ohne Ziel. In der Nähe muß sie irgendwo gewesen sein, die Kantine. Ich gehe durch eine Flügeltür, die sich kaum leichter öffnen läßt als die zum Speisesaal der Titanic auf dem Meeresgrund, und gerate in einen leeren, schräg von tausend Sonnenstaubstrahlen schraffierten Saal. Ein geweihter, ein historischer Ort zweifellos, eine heilige Stätte der Philosophie, an deren Wand, als letztes Überbleibsel, Zeuge einer versunkenen Epoche, tatsächlich das ominöse Wandgemälde immer noch prangt. Jede Maschine, jedes Band, jeder Schrank, jeder Tisch, jeder Stuhl, jede Schraube – alles wurde hier ausgeräumt und beiseite geschafft.Nur dieses Bild, für das sich wohl keine Verwertungsmöglichkeit ergab, blieb.
Ein vierflügeliger Altar der Arbeitswelt, dessen Innenräume sich zum Betrachter öffnen, halb Puppenbühne, halb mittelalterliches Tafelbild, gemalt in einer Technik, die lange vor der Erfindung der Zentralperspektive datieren muß. Alles steht beziehungslos nebeneinander, egal wo, vorn ist hinten, klein ist groß, und wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Der Hintergrund ist fast ganz ausgefüllt von großen Fenstern, die den Blick auf einen Garten freigeben, der mit einer Überfülle von munter sprießenden Blüten, Blumen und Bäumchen aufwartet. Wenn nicht alles täuscht, muß das der Garten Eden sein – oder zumindest der gleich nebenan.
In der Bildmitte die Szene einer Sitzung, aber ohne Worte – eine Art Abendmahl, aber ohne Brot und Wein. Sechs zum Teil schon ältere Frauen an einem Tisch, angeordnet wie Kriegerdenkmäler, verharren in seltsam steifer Körperhaltung auf ihren einmal eingenommenen Positionen und blicken auf beeindrukkende Weise – man kann’s nicht anders sagen – kreuz und quer aneinander vorbei. Ihre Zusammenkunft ist geprägt von einer beeindruckenden Dynamik der Lethargie. Die Münder sind verschlossen, niemand spricht ein Wort. Es kann beim besten Willen nicht gesagt werden, daß so etwas wie Optimismus oder eine Aufbruchstimmung zum Zug kommt. Vielmehr entfaltet sich hier eine eindrucksvolle Passion der Bitterkeit. Die Frauen wirken wie arretiert im Dienst, mitten in der Bewegung schockgefroren, irgendwie betätigungslos, seltsam aggressiv apathisch, in einer Art artifiziell-verkrampfter Entspanntheit. So könnte, so müßte, ja so sollte eine Schweigeminute aussehen, die seit Jahren andauert.
Links daneben, schier übergangslos, eine Kinderszene. Ein Mädchen und ein Junge, beide leblos wie Puppen, stehen da in einem Sandkasten, mit Eimer und Schaufel. Am Rand befindetsich ein kleineres Kind, bei dem die Perspektive völlig mißraten zu sein scheint, denn es ist nicht viel größer als ein kleiner Finger. Über ihnen wacht eine Frau, die Mutter womöglich, die Übermutter, mit Kind Nummer vier auf dem Arm.
Auf der rechten Bildseite, etwas verloren wirkend, eine Blumenvase mit roten Tulpen, daneben ein Bücherregal und davor ein Tisch, an dem eine Frau steht, die Zeitung liest. Neben ihr, sitzend, eine andere, ebenfalls in die Presse vertieft. Ob sie das Wetter studieren oder neue Produktionskennziffern – wir werden es nie erfahren.
Das linke Bildviertel schließlich zeigt wieder Frauen, jüngere diesmal, die sehr dicht vor einer Schultafel sitzen, an welcher der einzige Mann, der in dem Wandbild zu Gast ist, ein Lehrer womöglich, eine technische Zeichnung mit raketenförmigen Details erläutert. Die Rolle einer weiteren Dame, die scheinbar teilnahmslos, aber doch mißbilligend blickend dabeisteht, erschließt sich nicht auf Anhieb. Sie ähnelt Miss Moneypenny nach ihrem Übertritt zum KGB.
Der Blick wandert von einer Seite zur anderen und wieder zurück, hin und her, doch heraus kommt auf diese Weise nichts anderes als ein langsames Kopfschütteln.
Von links nach rechts gelesen, könnte es sich vielleicht um einen Lebensbogen handeln, wie er der Frau im Sozialismus vorbehalten war: Schule, Kinderkriegen, Sitzungen, auf denen stets andere das Wort führen, und im
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