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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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sehen. So sollte man das sehen. Sonderbar nur, daß keine der Frauen auf dem Bild Notiz nimmt von der Pracht, die sich direkt vor dem Fenster und somit in greifbarer Nähe befindet. Alle wenden dem Garten, den Blumen, dem blauen Himmel den Rücken zu, schauen ins Leere, lesen sogar lieber eine Zeitung, in der nichts steht – abgesehen von einer Frau am Tisch, bezeichnenderweise ganz in Schwarz gehüllt, deren Habitus Trauer und Hoffnungslosigkeit auszudrücken scheint. Eine mythische Konstellation deutet sich hier an: Dürfen sie den Blick nicht wenden? Oder wollen sie’s nicht? Oder wissen sie gar nicht, was sich da hinter ihnen auftut?
    Der Garten, so viel steht fest, interessiert die Anwesenden nicht im geringsten. Bei genauem Hinsehen wird auch klar, warum: Es mangelt an Wegen, an Pfaden. Infolge der exzessiven Bepflanzung mit Iris, Tulpen und Margeriten im Bodenbereich ist kein Durchkommen mehr. An alles hat man hier gedacht, alles wurde bis ins Kleinste sorgfältig geplant, eine Bepflanzung sozusagen auf Weltniveau – aber den Menschen, den hat man mal wieder vergessen. Deshalb, verständlicherweise, sind die Frauen so frustriert. Ein schöner Garten voller Blumen, und dann kein Rein- und kein Rankommen.
    Über die Gründe einer derart engen, geradezu tropenwäldlerischen Bepflanzung kann natürlich nur spekuliert werden. Der wahrscheinlichste Grund ist wohl, daß im Chaos streng planwirtschaftlicher Konfusion gerade kein Gerät zurWegbereitung vorhanden war – warum auch immer. Vielleicht weil die Lieferung von Walzen oder Plattenhebern aus Bulgarien mal wieder stockte.
    Oder, nein, alles falsch. Denn wenn es Lorbeerbäume sind, und es sieht ganz danach aus – Lorbeerbäume für Lorbeerkränze, die nach den wilden Planungen der späten Ulbrichtzeit einmal allen Aktivisten ums Haupt geflochten werden sollten –, wenn also hier Lorbeerbäume einer Lorbeerplantage wachsen, dann haben wir ein Werk vor uns, das früh-ökologisch die Monokultur anprangert, nach dem Motto: »Seht her, was sie mit unseren Frauen machen!« Lorbeer, muß man wissen, ist sehr stark ätherisch und kann im Übermaß genossen zu Schläfrigkeit, ja sogar zu einem Stupor führen. Es wäre also möglich, daß der betretene Gesichtsausdruck der Frauen einfach nur Benommenheit ist, narkotische Benommenheit, die durch die eindringenden Ausdünstungen der Intensiv-Bepflanzung mit der Lorbeer-Monokultur ausgelöst wurde. Die Lehrerin hält sich bereits den Bauch. Eine Frau am Tisch ist aufgestanden, um sich zur Toilette zu begeben. Bei den Schülerinnen vor der Tafel ist kaum noch Muskeltonus in den Armen, sie hängen schlaff am Stuhl herunter – sie sind schon so gut wie weggetreten. Und das Mädchen im Sandkasten überlegt, ob der Eimer vor ihr ausreicht, um sich in ihn zu übergeben.

    Eine auf den ersten Blick schlichte, fast unbeholfene Arbeit in pastosen, im Lauf der Jahre verblaßten Farben, von Studenten, Laienkünstlern oder der Arbeitsgemeinschaft am Feierabend malender Fernsehwerker angefertigt, vermutlich in den sechziger Jahren. Doch Delacroix’ »Floß der Medusa«, Menzels »Eisenwalzwerk« oder Picassos »Guernica« sind im Vergleich dazu kaum anspielungsreicher. Der Charakter der Epoche – wohl nirgends gewann er so eindrucksvoll Kontur wie auf diesem Gruppenbild mit Damen.
    Das man, einerseits, nicht überinterpretieren sollte. Schließlich hing es an der Wand einer Kantine, nicht einmal der Hauptkantine des Werks, sondern nur der kleineren, wenn ich es richtig erinnere, Nebenkantine. Der Auftrag an die Künstler lautete gewiß, ein rundum beruhigendes, diffus appetitanregendes Bild zu malen, eins, das nicht allzu konkret wird, eins, das nicht zu ausgedehntem Verweilen einlädt, nicht zur ausufernden Schlemmerei, sondern eher zum schnellen Verzehr ermuntert, so daß man bereitwillig und zügig zurück an den Arbeitsplatz eilt. Deshalb steht da auch nichts auf dem Tisch, nicht mal Wasser. Deshalb wird nicht gesprochen. Deshalb die betreten-gereizte Wartezimmer-Atmosphäre, die einen mit jeder Geste auffordert: »Na wird’s bald! Willst du ewig Pause machen?«
    Ein Werk, das andrerseits, in Kenntnis aller Zusammenhänge, schwerlich überzuinterpretieren wäre! Denn wen würde es groß erstaunen, hier, in diesem scheinbar unscheinbaren, der Welt abhanden gekommenen Kantinenfries der Arbeitswelt, als wäre das alles noch nicht genug, die Lösung eines der fundamentalsten philosophischen Probleme der Geistesgeschichte

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