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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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vorzufinden? Ungefähr im Zentrum des Bildes, auf dem langen Tisch, außerhalb jeder Gefahr, einfach weggenommen zu werden, unauffällig, aber auch unübersehbar liegt sie da, die zum Bleistift avancierte Schreibfeder von Wilhelm Traugott Krug.

9
    »T AG , A USSEN , G RAU « – murmelte ich vor mich hin, als ich durch einen düsteren Novemberregen am »Demokratischen Haus« um die Ecke bog, unter der Jacke geschützt die Mappe mit dem Vortrag, den zu halten ich mich hatte breitschlagen lassen. Natürlich hatte ich mich ausgiebig vorbereitet. Ich schrieb die ganze Rede auf, nannte sie »Der unbekannte Untergrunddichter in der DDR-Gesellschaft«, baute Fakten, Zahlen, Zitate ein und lernte vor allem die Gedichte auswendig, von deren Wirkung ich mir einiges versprach. Ich testete meinen Vortrag am Spiegel im Bad, am Rückspiegel im Auto und auch vor dem Spiegel in einer Umkleidekabine bei Karstadt und erntete überall schweigende Zustimmung – außer bei Karstadt, wo eine dumpfe Stimme aus der Nachbarkabine plötzlich herüberrief: »Wird schon wieder!« und eine Hand mit einem Eurostück sich durch den Vorhang schob.
    Die Unsicherheit war geblieben. Wie sollte ich auftreten? Vom Blatt abzulesen wäre nicht gut, frei zu sprechen traute ich mir nicht zu. Was, wenn die Leute, was ihnen nicht zu verübeln wäre, über die Gedichte den Kopf schüttelten? Was, wenn Fragen kämen, die mir zu intim wären? Ich fühlte mich wie zu einer unangenehmen Prüfung geladen, bei der von vornherein feststand, daß ich durchfallen würde, aber noch offen war, wie genau.
    Am Eingang stieß ich auf ein unübersehbares Plakat mit meinem Namen. In Großbuchstaben teilte der Text mit, daß hier und heute der unbekannte unterdrückte Untergrundschriftsteller W. auftreten und aus seinem unbekannten Werk lesen werde. Mit Kugelschreiber hatte jemand hinzugefügt: »Hö, hö,das wird lustig!« Daneben stand, in anderer Schrift: »Unbekannte Zuhörer, kommt!« Ein anderer hatte vermerkt: »Viel Spaß – unbekannterweise!« Und mit fettem Edding, unfaßbar für mich, hatte jemand geschrieben: »Leute, ich garantiere!!!, daß es sehr, sehr komisch wird.«
    Mein erster Impuls war, auf der Stelle umzukehren. Dem zweiten Impuls nachgebend, riß ich das Plakat ab und betrat den Saal.
    Wenn ich damit gerechnet hatte, eine Handvoll Zuhörer vorzufinden – ein paar graubärtige Bürgerrechtler, die Veranstalter und Zufallsgäste, die keine bessere Idee für den Abend ergattern konnten –, dann hatte ich mich getäuscht. Zu meinem Entsetzen war der Saal total überfüllt. Die Sitzplätze reichten nicht aus, überall saßen junge Leute, Studenten, Pärchen, und sie waren in bester Stimmung. Sie lehnten an den Fensterbrettern, sie standen an den Wänden entlang, in den Gängen, sie hockten auf dem Fußboden, und sie richteten ihre Augen erwartungsvoll auf mich.
    In der ersten Reihe gewahrte ich Frau Schneider, die mir aufmunternd und freundlich zulächelte. Neben ihr saß ein dicker Typ, der mir, als er mich erblickte, fröhlich zuwinkte und breit griente.
    In panischer Erwartung anbrechender Peinlichkeiten betrat ich die Bühne. Ich hielt das Plakat hoch und sagte: »Falls hier jemand gekommen sein sollte, um einen unbekannten Untergrunddichter zu sehen, der aus seinem unbekannten Werk vorliest – bitte!«
    Der Saal verstummte sekundenlang, danach ertönte ein fröhliches Raunen.
    Frau Schneider in der ersten Reihe hatte sich erhoben. Sie drehte sich halb in den Saal, halb zu mir und hielt eine kleine Eröffnungsansprache: »Ein herzliches Willkommen an alle! Mein Name ist Anika Schneider, ich bin vom V.U.U.D., dem Vereinder unbekannten Untergrunddichter Deutschlands. Wir haben Herrn W. heute hier eingeladen, weil er in der DDR ein echter unterdrückter unbekannter Untergrunddichter war – so unbekannt übrigens, daß er selber nicht einmal wußte, daß er einer ist.«
    Ich hörte einen spitzen Schrei. Der Saal fing an zu lachen.
    Das war mir unangenehm: Frau Schneider hatte mich schließlich eingeladen, wir saßen im selben Boot. »Entschuldigen Sie, Frau Schneider«, sagte ich deshalb, den Ball aufnehmend und so jovial wie möglich, »ganz unbekannt war ich mir selber nicht.«
    Das Publikum belohnte unseren kleinen Disput mit heftigem Gelächter. Als es verklungen war, fuhr ich fort: »Ich bin eigentlich nicht gekommen, um Sie zum Lachen zu bringen. Wer Spaß haben will, kann in den Comedy-Quatsch-Club gehen, hier gleich nebenan. Da gibt’s

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