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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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sich der Saal erneut vor Lachen.
    »Trotzdem darf nicht unterschlagen werden, welche Rolle der unbekannte Untergrunddichter in der Gesellschaft spielte.« Meine Worte gingen unter. Ich sprach tapfer weiter von Unterdrückung, Überwachung, Verfolgung, Verletzung der Privatsphäre und nicht vorhandenen Menschenrechten. Ich erklärte, die DDR sei ein totalitärer Staat gewesen, der von einer einzigen Partei regiert wurde, der man das auch angesehen habe. Bei Literatur sei sie vor Angst fast verrückt geworden, deshalb hätten alle im Stil des sozialistischen Realismus schreiben müssen, ohne daß irgendwer wußte, was das genau war.
    Wenn ich gehofft hatte, das Publikum zu ernüchtern und innehalten zu lassen, hatte ich mich getäuscht. Sobald ich die Worte Stasi, IM und Akte aussprach, verfielen alle wieder in begeistertes, ja hysterisches Gelächter.
    Als ich wieder auf die Uhr sah, war meine Zeit abgelaufen, und ich hatte zum Thema des Vortrags so gut wie nichts gesagt. Resigniert und etwas onkelhaft meinte ich noch: »Als wir Kinder waren, brauchten wir, um uns zum Lachen zu bringen, nur bestimmte Wörter auszurufen wie ›Hühnerkacke‹ oder ›Eierkopf‹. Ich glaube, Sie sind aus diesem Alter noch nicht ganz rausgewachsen.«
    Eine weitere Lachwelle folgte meinen Worten. Irgendwo klingelte ein Telefon. Es hatte keinen Zweck. Ich schloß meinen Vortrag mit einem Resümee: »Ich dachte eigentlich, das sei hier eine ernste Angelegenheit, aber da lag ich offenbar daneben. Daher beende ich hiermit. Danke fürs Zuhören.«
    Beifall prasselte los, die Leute standen auf, jubelten und wollten gar nicht mehr aufhören. Nach dem Vortrag kamen sogar Autogrammsammler.
    Eine ältere Dame nahm ihre Brille ab, blickte mir in die Augen und versicherte: »Ich habe in meinem ganzen Leben nichtso gelacht. Besonders, seit im letzten Jahr mein Mann aus dem Fenster sprang.« Dann klingelte das Telefon in ihrer Handtasche und sie sagte: »Ach Gottchen, hoffentlich ist er das jetzt nicht!«
    Der dicke Student bedankte sich für meinen »geilen Sinn für Humor«.
    Seine Nachbarin sagte, sie habe vorgehabt, ihre Doktorarbeit über die Leute vom Comedy-Quatsch-Club zu schreiben, aber jetzt werde sie nur noch über unbekannte, nein, unterdrückte, nein, unbekannte unterdrückte Untergrunddichter schreiben. Sie lachte schon wieder. »Es gefällt mir, daß Sie so ein fröhlicher Mensch geblieben sind«, sagte sie.
    Ich widersprach ihr nicht.
    Zuletzt kam einer der Wachleute. Er wischte sich über die Augen, klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Wenn Sie mal keine Lust mehr haben, ein unbekannter Untergrunddichter zu sein, dann sollten Sie unbedingt ans Telefon gehen.«
    Es klingelte immer noch.

    Als wäre es nicht kompliziert genug, so prekäre Zustände wie Illusion und Wirklichkeit, Gestern und Heute, Ernst und Spaß auseinanderzuhalten! Natürlich handelte es sich bei der resolut in meinen Traumauftritt hineinklingelnden Anruferin um Frau Schneider, meine charmante Untergrunddichter-Betreuerin, die mich am späten Morgen aus dem Schlummer riß.
    »Habe ich Sie geweckt?« fragte sie scheinheilig.
    »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich, »aber sprechen Sie! Was gibt’s? Wo brennt der Schuh?« War ja klar, weshalb sie anrief, aber ich wollte einen Realitätsbeweis haben.
    »Unser Symposium ›Dichter. Dramen. Diktatur‹. Der Termin rückt näher, und Sie wollten sich melden, wenn Sie Ihre Akte haben. Ist sie gekommen? Haben Sie sie gelesen?«
    »Ist. Habe«, sagte ich. Nach Lektüre der Substantiv-Unge-heuer-Ketten-Prosa von Oberleutnant Schnatz hatte ich mir vorgenommen, möglichst nur noch in Verben zu sprechen.
    Sie schwieg irritiert. »Und was machen Sie jetzt?«
    Ich suchte nach einem passenden Verb.
    »Herr W., sind Sie noch da?«
    »Nachdenken. Träumen. Nicht mehr aufwachen – etwas in der Richtung.«
    Frau Schneider biß sich auf die Unterlippe. Ich hörte das zwar nicht, konnte es auch nicht sehen, aber ich dachte es mir.
    »Ist alles in Ordnung bei Ihnen?« fragte sie. »Ich rufe an, um mit Ihnen über Ihre Teilnahme zu sprechen. Sie kommen doch, oder!?«
    Ich wußte es nicht. »Sehen Sie«, sagte ich, »ich war kein Staatsfeind. Ich wurde dazu erfunden. Die Stasi hat meine Gedichte auch nicht unterdrückt, im Gegenteil, sie hat sie kopiert und verteilt. Sie war eigentlich mein einziger Leser …«
    »… Sie wollen doch nicht allen Ernstes …«, unterbrach mich Frau Schneider.
    »… abgesehen von meiner Freundin

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