Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
begleitete ich zur bundesdeutschen Botschaft nach Prag, in deren Räumen Tausende auf die Ausreise in die Bundesrepublik warteten. Ich wollte es sehen und spüren, wie es sich anfühlt, dort zu sein und eben nicht auszureisen. Und es mir dann vielleicht doch überlegen.
Moses, ganz klar, wollte, mußte weg. Er neigte nicht nur wie ich zum möglichst anwendungsfreien Theoretisieren, sondern seltsamerweise auch zum Golfspiel. Sein Pech und Unglück war, daß es in der gesamten DDR keinen Golfplatz gab. Nicht einen einzigen. Golf war tabu. Zwar existierte kein ausdrückliches Verbot, doch galt dieser Sport in der DDR als kapitalistisches Relikt, das beim Aufbau des sozialistischen Staatssportswesens nicht nur ignoriert, sondern regelrecht wegignoriert wurde. Hier und da soll es, hieß es, Hobbygolfer mit Ästen und selbstgebastelten Schlägern und Bällen und improvisierten 3-Loch-Plätzen in abgelegenen Parkauen gegeben haben, die ganz mit sich allein die sonderbarsten Handicaps der Welt aushandelten.
Wenn es in der DDR keine Golfplätze gab, so gab es doch überall Minigolfplätze. Das waren kleingartengroße Areale, zumeist mit drei, vier ramponierten und verwitterten Bahnen bestückt, über deren Zustand Besucher und Kinder oftmals verzweifelten. Vor dem Parcours befand sich ein hölzernes Wärterhäuschen, wo das Eintrittsgeld entrichtet werden mußte. Auf diesen Minigolfplätzen spielte Moses, aber sozusagen richtig Golf. Das heißt, er markierte irgendeine Ecke des Platzes als Loch, begab sich dann auf die entgegengesetzte Seite und machte mit Minigolfschläger und Minigolfball seinen Abschlag. Der erste Schlag war für gewöhnlich auch sein Handicap. Er wurde regelmäßig hinausgeworfen. Bald hingen auf allen Minigolfplätzen Fotos von ihm mit dem Hinweis, daß diese Person hier Platzverbot habe. Landesweites Minigolfplatzverbot – das mußte man erst einmal schaffen.
Einmal war ich dabei, wie die Fensterscheibe eines Wärterhäuschens zu Bruch ging und wir, Moses und ich, vor dem außer sich geratenen Platzhausmeister fliehen mußten. Oft beschwerten sich andere Besucher, die von einem Querschläger gestreift wurden. Moses entschuldigte sich stets mit ausgesuchter Höflichkeit, bedauerte sein Mißgeschick, versäumte aber nie, auf die besondere Zwangslage hinzuweisen, in der er sich befinde, weil es in der DDR, einem Land, das zwar klein sei, aber nicht so klein, nicht mal einen anständigen Golfplatz gebe. Und die meisten Leute, kein Witz, nickten verständnisvoll und klopften ihm auf die Schulter.
Wenn jedenfalls diese Golfmeise, die er hatte, der Grund war, weshalb er weg wollte, dann war das ein Grund, gegen den man, selbst wenn man wollte, nur wenige Gegengründe, ja, genaugenommen, keinen einzigen Gegengrund vorbringen konnte.
Wir saßen in seiner alten Schüssel, einem verrosteten und in jeder Kurve quietschenden und rasselnden Moskwitsch, dersich zäh vorwärtsarbeitete, und ich versuchte, es ihm auszureden.
»Hast du die Leute gesehen, die da über den Zaun auf das Botschaftsgelände geklettert sind?« fragte ich ihn.
»Ja, und?« gab er zurück.
»Wenn die kämen, und ich wäre da drin, würde ich schleunigst in die andere Richtung ausbrechen. Diese Klientel von Kellnern, Klempnern und Kraftfahrern … Allein schon die Frisuren … Das ist doch die Crème de la crème der Kriecher, die Elite des Espritmangels, das Dorado der Dumpfbacken … Werfen Babys über den Zaun … Als würden hinter ihnen Maschinengewehrsalven durch die Straßen peitschen.«
»Du spinnst«, stellte er nüchtern fest. »Leute sind überall. Soll ich deshalb nach Nordkorea flüchten wie dein Freund Bert, nur weil da keiner mitkommt?«
Dagegen war schwer zu argumentieren. Solange das Gespräch nicht das Thema Golf touchierte, bestand aber noch eine Chance. Moses, erinnerte ich, hatte einmal einen kurzen Schmalspurfilm gedreht, in dem nur zu sehen war, wie er rückwärts durchs Bild lief – beziehungsweise eben nicht. Er hatte lange geübt, so rückwärts laufen zu können, daß es, wenn der Film rückwärts lief, wie ganz natürlich vorwärts aussah. Das Ergebnis war sensationell. Man sah Hunderte Menschen rückwärts durch die Gegend irren, während ein einziger, Moses, sich langsam vorwärts schreitend seinen Weg bahnte.
»Moses!«
»Ja?«
»Was, wenn wir in der falschen Richtung unterwegs sind?«
»Und welche wäre deiner Meinung nach die richtige?«
»Alle wollen jetzt nach drüben. Das kann unmöglich das
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