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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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den Tag lege. Es beschäme ihn sehr, er sei eigentlich kein Denunziant, doch wolle er sich später keine Vorwürfe machen. Er könne, was diese Person angehe, für nichts garantieren.
    Der Diensthabende tippte alles fleißig mit, erkundigte sich nach diesem, jenem und irgendwann schließlich nach dem Namen des als Staatsfeind Verdächtigten.
    Karl-Werner erklärte, er bedauere außerordentlich und es falle ihm alles andere als leicht, doch seine Pflicht als Bürger der DDR gebiete ihm, den Namen dieses Individuums preiszugeben. Es sei, er bitte um Verzeihung, niemand anderes als er selber.
    Die Staatssicherheit war weniger amüsiert als wir, und sie wies Karl-Werner abrupt die Tür. Aber damit war die Geschichte keineswegs zu Ende.
    Er sei, erzählte Karl-Werner weiter, anschließend in keiner guten Stimmung gewesen. Zu Hause habe er die Weltkriegs-Pistole seines Vaters, eine »Walther«, vom Dachboden geholt, ein Päckchen Schlaftabletten aus dem Medizinschrank sowie einen Strick. Damit ausgerüstet ging er zur nahe gelegenen Brücke über der Pleiße. Dort schluckte er die Tabletten, band den Strick am Geländer fest, lud die Pistole. Dann legte er sich die Schlinge um den Hals. Er schob den Lauf der Pistole in den Mund und sprang. Eine Stunde später wurde er, im kalten Flußsandsteckend und wimmernd, von einem Passanten entdeckt und gerettet.
    Ob, wollte ich wissen, dieser Passant wie einst Jesus übers Wasser gehend zu ihm gekommen oder ihn ganz profan vom Ufer aus gerettet habe?
    Karl-Werner schüttelte den Kopf. Naturwissenschaftlich sei alles erklärbar. Kurz nachdem er gesprungen sei, habe er, so viel stehe fest, abgedrückt. Die Kugel sei aber hinten am Hals wieder ausgetreten und habe den Strick durchtrennt, woraufhin er in die Pleiße gefallen sei. Die war sehr flach an diesem Tag, und er sei bis zum Hals im Schlamm des Flusses steckengeblieben. Durch die Kälte des Wassers hätten sich die Blutgefäße des Körpers zusammengezogen und so die Aufnahme des Barbiturats verhindert.
    Wir schauten Karl-Werner mit stark erhobenen Augenbrauen an. Er aber, nachdem er die Beweisführung beendet hatte, nahm feierlich einen Schluck Bier, senkte anschließend den Kopf und zeigte uns eine kleine Narbe, die sich hinten am Hals unter dem Haaransatz befand.
    Das waren Gespräche.
    Angenehm absurd auch die Honecker-Verschwörungstheorie, die er in den letzten Monaten der DDR entwickelte. Durch supergenaues Studium des »Neuen Deutschland«, des SED-Zentralorgans, war ihm, behauptete er, aufgefallen, daß der Generalsekretär seit einiger Zeit bei offiziellen Terminen durch ein Double ersetzt wurde. Offenbar war er tot oder schwer erkrankt. Da fast in jeder Ausgabe des »Neuen Deutschland« ein oder mehrere Fotos Honeckers abgedruckt waren, kam es immer wieder zu ergreifenden Szenen, wenn Karl-Werner die Zeitung ausbreitete, um die Fotos auf ihre Echtheit zu prüfen. Da, dieser Honecker bei der 47. Tagung der Parteikonferenz der Bezirksdelegierten sei natürlich der echte, logisch, klar, sieht man gleich. Der hingegen, zwei Seiten weiter hinten beim Empfangdes durchreisenden Vizepräsidenten der bulgarischen Eisenbahnergewerkschaft, eindeutig das Double. Warum hier der echte und da ein Double aufkreuze, könne er, sagte er, nicht wissen, noch nicht wissen. Ich schnitt manchmal Honecker-Bilder aus, um Karl-Werner auf die Probe zu stellen.
    Er irrte sich nie. Recht hatte er natürlich auch nicht.

    Im Sommer und Herbst ’89 kam Abwechslung in diesen bizarren Trott. Eine nicht für möglich gehaltene Ausreisewelle lief über Ungarn und Prag. Mahnwachen, Demonstrationen, Friedensgebete – man überbot sich in Aktivitäten. Regierung, Behörden und Polizei tappten den Ereignissen hinterher. Die Lage spitzte sich, wie man sagt, zu, und so entstand, kein Wunder, eine zugespitzte Lage, die sich immer weiter zuspitzte.
    Erich Honecker war nirgends zu sehen, nicht mal als Double.
    Sogar im Friseurmuseum verstärkte sich der Besucherauftrieb. Irgendwelche Typen, die irgendwas gehört hatten, liefen herum. Komisch, so viele Leute mit langen Haaren und Bart auf einem Haufen zu sehen, ausgerechnet im Friseurmuseum. UFO-Jürgen hatte plötzlich eine Mission. Die Rede war von einem Forum, von einer Neugründung der Sozialdemokratie-Ost. Unterschriftenlisten wurden herumgereicht wie Mozart-Autographe. Neue Oppositionsgruppen, neue Papiere, neue Forderungen an jeder Ecke. Es wurde über Formulierungen und Parolen gegrübelt, Manifeste

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