Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
richtige sein. Es klingt phantastisch, ich weiß, aber im Moment sieht es wirklich danach aus, als sei’s Nordkorea.«
»Was sagt eigentlich deine Liane?« wollte er unvermitteltwissen. Er lenkte gerade den Wagen direkt in die Tiefgarage irgendeines Prager Kaufhauses, wo die Fernstraße aus Berlin offenbar mündete.
»Ich weiß es nicht. Es kam schon lange kein Brief von ihr. Die Telefonleitungen sind zu.«
»Meinst du nicht, es wäre ein Riesending, ein absoluter Coup, wenn du vor ihrer Tür in München stehst?«
»Ja, natürlich«, sagte ich, aber genau wußte ich es nicht.
»Tu’s!« Moses blickte zu mir.
»Und dann?« fragte ich.
»Verwirklicht ihr euren Traum!«
Nach einigen konfusen Parkhausmanövern trafen wir endlich ein auf dem Platz vor der Botschaft. Überall drängten sich schon Gruppen von Menschen. Busse kamen und fuhren. Eine beklemmende Euphorie war spürbar. Überall auf dem Boden lagen Münzen, DDR-Geld, und durch die Luft flatterten 20-, 50-, 100-Mark-Scheine wie unförmiges Konfetti.
»Verwirklichung«, erwiderte ich, »ist nicht immer das beste, was der Realität einfällt. War die DDR nicht auch die klassische Verwirklichung. Ver-wirk-lich-en – das Wort sagt doch alles. Man sollte verwirken dazu sagen.«
Noch bevor Moses antworten konnte, öffnete sich das Tor der Botschaft. Die Menge strömte hinein, wir umarmten uns schnell und kurz, und selbst wenn ich es gewollt hätte, vermochte ich jetzt nicht, hinterherzulaufen.
Einsam wie selten, wie eine lebende Statue, blieb ich eine Weile stehen und fuhr dann mit seinem Auto zurück, wobei während der Fahrt zu allem Überdruß und Weltschmerz auch noch die Rückenlehne des Fahrersitzes abbrach. Einfach so. Materialermüdung. Über vier Stunden dauert die Fahrt von Prag nach Berlin – ohne Lehne im Auto eine anspruchsvolle Aufgabe, eine Idiotie, eine Tortur.
Wahrscheinlich war ich der einzige, der in dem Moment indieser Richtung unterwegs war, in Richtung DDR, und um mich überhaupt auf dem Sitz aufrecht halten und fahren zu können, umklammerte ich das Lenkrad wie einen Rettungsring. Nach einer verkrampften Ewigkeit zu Hause angelangt, zog ich die Badewanne aus ihrem Küchenversteck und stieg hinein, bevor das Wasser überhaupt den Boden bedeckte.
Der genaue Verantwortungs-Dienstweg in puncto Maueröffnung am 9. November 1989 ist trotz zahlreicher Spezialanstrengungen von der historischen Forschung bislang nicht befriedigend aufgeklärt worden und wird vielleicht noch Generationen von Rätselfreunden in den Bann ziehen, wenngleich für die, die dabei gewesen sind, feststeht, daß ein Cocktail aus banalen Mißverständnissen, Verschwörungen und zwotem Hauptsatz der Thermodynamik hier ausschlaggebend gewesen sein muß. Egal. Was geschehen ist, ist geschehen.
Dieser Donnerstag, der 9.11., ist längst Weltgeschichte, und er ist der Tag der letzten Eintragung von Oberleutnant Schnatz. Es sind drei Zeilen, Zeilen des Abschieds, Zeilen, die nicht wissen, daß sie die letzten sein werden in einer Angelegenheit, von der weder ich, ich sowieso nicht, noch der Oberleutnant ahnen, daß sie zwanzig Jahre später wie ein Vermächtnis aus der Akte ragen.
»Das Verhalten des W. ist zuletzt ohne besondere Auffälligkeiten. Nach seiner von GMS registrierten Ausreise in die CSSR kehrte er am gleichen Abend nach Berlin zurück. Er hält sich seitdem vorwiegend in seiner Wohnung auf. (Name geschwärzt) berichtet, daß in der Küche des W. immer Wasser läuft. Maßnahmen: Postmaßnahme ›M‹ verstärkt aufrechterhalten. Weitere op. Beobachtung des W., insbesondere Aufklärung d. Beteiligung an zunehmenden Vorstößen …«
»Vorstößen« ist gut. Nach »Vorstößen« war mir nicht zumute.
Ich saß am Abend des ominösen Tages in der Schönhauser Allee in der »Lotus Bar«, einem schmierigen Nachtlokal mitTürsteher, gedämpftem Rotlicht und Knutsch-Nischen. Normales Deppengerede schwallte durchs Etablissement, und ich hatte mir gerade eine Nicaragua-Solidaritäts-Cigarre angebrannt und einen Cuba Libre bestellt, als so gegen 22 Uhr die Nachricht von der erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Maueröffnung am Übergang Bornholmer Straße stille-Post-mäßig hereinschneite und sich laut verbreitete. Der Verkehr auf der Allee hatte auch, statt wie gewöhnlich ab-, merklich zugenommen, die Leute standen vorwärts in den Straßen. An den Nachbartischen brach Enthusiasmus aus, ein Grüppchen nach dem anderen zahlte und verließ den Laden, bis ich
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