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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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entstanden, die jeden Tag wieder umgeschrieben werden mußten.
    Uns war dieser Übereifer etwas suspekt und zu übereifrig. Humor war nicht die Stärke dieser Leute. Es gab Streit, ob man »Demokratie jetzt« fordern solle oder, wie einst Willy Brandt, »Demokratie wagen«, ob die Zeit reif sei für eine »demokratische Erneuerung« oder für einen »Demokratischen Aufbruch«.
    Ich weiß noch, wie wir leicht indigniert in diesen Debatten und einem stetig anwachsenden Pseudotrubelherumdämmerten, UFO-Jürgen palaverte von »notwendiger demokratischer Kontrolle der Regierenden«, als plötzlich einer dieser Reisebusse durch die Straße kroch. Karl-Werner stürzte aufs Trottoir, stoppte den Bus und rief dem völlig konsternierten Fahrer mit erhobenem Zeigefinger mahnend zu: »Erst einsprühen, dann abruhen!«
    Das war die Initialzündung, jedenfalls für Karl-Werner und mich. Wir setzten uns an ein Barbierbecken und erfanden eine Losung nach der anderen, Hauptsache, niemand konnte sie gebrauchen.
    »Wer zuletzt lacht, der lacht spät!«, legte ich vor.
    Karl-Werner überlegte nur kurz und sagte dann in einem Tonfall, als wäre dies ein das ganze Leben völlig neu gewichtender Merksatz: »Die Kirschen nicht immer im Dorf lassen!«
    »Zu viele Schritte verderben den Weg!«
    »Im Schatten die Schattierungen nicht vernachlässigen!«
    »Die Sonne und der Mond / sind beide unbewohnt!«
    »Unter dem Teppich ist viel Sand.«
    »Draußen nur Kännchen!«
    Und während wir kicherten und vor unserem inneren Auge ein Menschenmeer durch Berlin marschieren sahen, über das Schilder mit unseren absurden Maximen und Reflexionen schwammen, allen voran natürlich Karl-Werners unüberbietbare Parole: » Erst einsprühen, dann abruhen!«, da ging’s in diesem Friseurmuseum richtig los.
    Eine Protestdemo, eine genehmigte, sollte jetzt tatsächlich stattfinden, angemeldet und organisiert von Schauspielern des Deutschen Theaters, und zwar schon morgen, auf dem Alexanderplatz. Die Euphorie war riesig. Das Durcheinander war groß. Das Friseurmuseum brummte wie nie.
    Gleich gab’s wieder zahllose Parallelmonologe. Wie blöd es sei, auf einem von der SED genehmigten Parcours zu marschieren. Wie klar es sei, daß diesmal alle hingehen würden. Wieunangenehm, wenn wirklich alle kämen, besonders diejenigen, die sonst die Klappe gehalten hatten. Wie man sich von den Berliner Kodderschnauzen absetzen solle.
    Bald stand eine ganz andere, praktische Frage im Raum: Transparente? Man brauchte Transparente. Wir konnten ja nicht mit UFO-Jürgens Bärten, elefantengroßen Perücken und rostigen Rasiermessern zum Alexanderplatz ziehen.
    Es wurde telefoniert, Leute kamen, Leute gingen. Kuriere schwärmten hin und schwärmten her. Die Rede war von Sammelstellen und Verteilungspunkten. UFO-Jürgen orderte hochwichtig und generalstabsmäßig Stoffe, Pappe, Farben und Pinsel. Dann sahen alle auf uns, Karl-Werner und mich.
    Und UFO-Jürgen sagte: »Okay. Jetzt seid ihr dran.«

    Die Stimmung war gut, das Bier kam direkt aus dem Kühlschrank. Die meisten Texte gingen auf Zuruf. Jemand hatte ein Stichwort, dann klebten wir einen Reim dran, fertig. Einer rief: »1. Mai«, und ich schrieb: »Vorschlag für den 1. Mai / die Führung zieht am Volk vorbei.« Dann kam: »Phrasen«, daraus wurde: »Der Dialog wird bald zur Phrase / drum gehn wir weiter auf die Straße«. Aus »Wandlitz« wurde: »Auf nach Wandlitz / schaut ihnen ins Antlitz«, »Wandlitzland in Volkeshand!«
    Sprüche, die auch nicht weniger absurd waren als jene Nonsens-Parolen, die wir kurz zuvor erfunden hatten.
    Krenz, Egon Krenz, lange FDJ-Chef und eben erst zum Nachfolger Erich Honeckers gewählt, eignete sich besonders gut als Kalauer-Adressat. Wir machten Dutzende: »Demokratie KRENZenlos!«, »Die Volkskammer – ein KRENZkontrollpunkt«, »Immer nur StaatsKrenzen?« »KRENZen überwinden!« »Keinen ausKRENZen!« usw.
    Je länger die Nacht, um so frivoler die Slogans. Stasi? Kein Problem: »Stasi in die Produktion / für normalen Durchschnittslohn!« Karl-Eduard von Schnitzler: »Schnitzler in dieMuppetshow / Kermit ins Politbüro!« Gorbatschow, Glasnost: »Glasnost! Und nicht Süßmost.«
    Es ging praktisch maschinell. UFO-Jürgen reichte neue Zettel, trug die beschriebenen irgendwo nach hinten, wo an einem langen Tisch, auf dem man früher womöglich Giraffenhälse enthaart hatte, die Malerbrigade wirkte. Es war, wie einem erst hinterher klar wurde, eine Nacht von diesen Nächten, von denen

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