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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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später viel herumerzählt werden würde. Ökonomisch und staats- und sicherheitspolitisch betrachtet, handelte es sich um einen Sieg, um einen Triumph des unterdrückten unbekannten Dichtertums über die Mächte – nicht der Finsternis, aber, sagen wir, über die Mächte der grundsoliden, grundmorbiden, grundstupiden Eintönigkeit.

    Am nächsten Tag, dem 4. November, bei der Protestdemonstration auf dem Alexanderplatz, dieser ersten Gelegenheit für viele, mal Luft abzulassen, waren sie alle da, von denen wir befürchtet hatten, daß sie kommen würden: die normalen Leute eben. Die über Jahre und Jahrzehnte überall mitgemacht, mitgespielt und mitgelaufen waren. Im Grunde demonstrierten sie gegen sich selbst. Warum auch nicht?
    Wir waren schließlich ebenfalls da, das heißt, nicht ganz. Karl-Werner und mir war das Gedränge und Geschiebe auf dem Platz, den sich eine Million Menschen streitig machten, zu unkommod, zumal sich keine Gelegenheit bot, ein als dringlich geboten empfundenes »Protestbier« zu nehmen. So gerieten wir, mehr oder weniger ziellos, ins »Haus des Lehrers«, das an der Seite des Alex aufragt. Im fünften Stock, siehe da, war ein Restaurant, wo man einen wunderbaren Blick auf das Geschehen hatte. Bier gab’s auch. Wir hörten die Reden. Sahen überall unsere Parolen auf den Transparenten, die mit Begeisterung hochgehalten wurden. Und fühlten uns wie Hobby-Demiurgen der Weltgeschichte.
    Die Ansprachen wurden live im Radio übertragen, das der Wirt laut aufdrehte. In den Pausen erklang Operettenmusik. Mitten in den Takten von, ich glaube, »Orpheus in der Unterwelt« erhob sich Karl-Werner, schlug an sein Glas und bat um Gehör. Die Musik wurde leiser. Er hielt eine kleine Ansprache über das Glück des historischen Augenblicks, dem wir alle beiwohnten, die Drehung des Rads der Geschichte, die sich vor unser aller Augen vollziehe, ja, diese Sternstunde der Menschheit, wie sie weiß Gott nicht alle Tage stattfinde, über welcher wir aber eine zentrale Wahrheit, eine grundlegende Erkenntnis nicht vergessen und niemals aus den Augen verlieren dürften, die da lautete: »Erst einsprühen, dann abruhen!«

13
    R AUM FÜR N OTIZEN ? Fünfundzwanzig leere Seiten zähle ich beim Umblättern am Ende der Akte. War das die von Schnatz für mich projektierte Bearbeitungsdauer? Was wäre danach gekommen? Der Zugriff? Die Deportation in den Lyrik-Gulag? Und warum gab’s kein Danach mehr?
    Die letzten Wochen der DDR im Herbst 1989, erinnere ich, verbringe ich in rätselhafter Apathie. Wie wenn in einem überlangen und dennoch spannenden Krimi endlich die Stelle mit der Auflösung des Falls erreicht ist und klar wird, daß mal wieder derjenige der Täter sein würde, dem man es am wenigsten zugetraut und gewünscht hätte, halte ich inne. Lege das Buch zur Seite. Denke an etwas anderes. Der Moment der Wahrheit ist eben auch immer nur ein Moment, und danach geht alles wieder von vorn los.
    In meiner Wohnung in der Dunckerstraße im Prenzlauer Berg, ein Zimmer, Küche, Außenklo, gab’s eine Badewanne, die ich jetzt für mich entdeckte. Man mußte einen Trumm von Schublade unter der Spüle in der Küche herauszerren, eine Rollbadewanne, deren Rollen nicht funktionierten. Das Wasser brauchte ewig, bis ausreichend davon durch die Pipette des Zulaufs getröpfelt war, daß ich hineinsteigen konnte, und dementsprechend lange blieb ich drin – wie Diogenes in seiner Tonne. Wenn jemand kam, der aufgeregt berichtete, wer verhaftet worden, was auf den Straßen los war und sich überall tat, hätte ich am liebsten geantwortet: »Bitte geh mir aus der Sonne!« Aber die Sonne schien ja nicht in meine Hinterhofküche. So sagte ichalso Dinge wie: »O Gott«!«, »Ach, nein!« und »Wahnsinn!« und verteilte Schaum im Wasser.
    Ich dachte natürlich an Liane. Und versuchte, nicht an sie zu denken.
    Bei einer Demo ein paar Tage zuvor, nicht in der Badewanne, die ich ja auch mal verlassen mußte, sondern in der Schönhauser Allee, hatte ich beobachtet, wie zwischen den Reihen der Leute und der Volkspolizisten ihnen gegenüber Geld auf die Straße geflogen war.
    Wer wirft denn da mit Geld, dachte ich und sah, daß es von den Demonstranten kam. Sie kramten in den Taschen und schleuderten die verhaßten Alumünzen in Richtung der verhaßten Polizei. Ein surrealer Moment: Die DDR-Bullen waren alles mögliche, in der Regel hundertprozentig blöd – aber bestechlich und korrupt, das nun nicht.

    Moses, meinen Studienfreund,

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