Ich schreib dir morgen wieder
vollkommen gleichgültig war. Ja, ich hatte viel Übung darin, ihn zu verletzen.
Ich glaube, diese Geschichte erzählte ich Marcus, während wir auf das Haus zugingen, aber ganz sicher bin ich mir nicht mehr.
»Ich hab die Fernbedienung für das Tor nicht mehr an meinem Schlüssel«, hörte ich mich sagen. »Also muss ich wohl über die Mauer klettern und das Tor von innen öffnen, vom Haus aus.«
Ich hatte mein eigenes System, ins Haus zu kommen. Meistens hatten Mum und Dad mir nämlich meinen Schlüssel abgenommen, wenn ich aus der Schule kam, damit ich abends nicht abhauen konnte, aber obwohl das Tor so hoch war, hatte ich mit der Zeit gelernt, ohne größere Schwierigkeiten drüberzuklettern. Ich hörte noch, wie Marcus mir einen anderen Weg vorschlug, achtete aber nicht auf ihn, sondern kletterte wie per Autopilot über das Tor und landete wie gewohnt weich auf der anderen Seite. Als ich die lange Auffahrt entlangging, die zum Haus führte, hörte ich Marcus applaudieren. Wahrscheinlich glaubte er, dass seine Anwesenheit wichtig für mich war, aber in Wirklichkeit dachte ich nur an mich selbst.
Unser Haus – Glas, Stein, Holz, hell, leicht, modern, luftig. Wie aus dem Katalog. Die Steinverkleidung passte sich dem Fels der Umgebung an, die Holzteile schufen eine Verbindung zu den Wäldern ringsum, das Glas ermöglichte einen freien Blick über das endlose Meer. Dad hatte versucht, ein perfektes Heim für uns zu erschaffen, das keiner von uns jemals würde verlassen wollen. Und das war ihm ohne Zweifel gelungen. Ich wusste, dass die Haustür verschlossen sein würde, und ging, immer noch auf Autopilot, zur Rückseite des Hauses.
Im Garten entdeckte ich sofort den völlig durchweichten Tennisball. Er war von unserem Tennisplatz herübergeflogen, der gleich daneben lag, und ich war immer zu faul gewesen, ihn aufzuheben und zurückzubringen. Es war an einem der ersten Frühlingstage gewesen, als wir endlich wieder den Platz draußen benutzen konnten. Dad spielte mit mir, aber ich war unglaublich schlecht, weil ich den ganzen Winter keinen Schläger angerührt hatte und völlig eingerostet war. Ständig verfehlte ich den Ball, schlug ihn über den Zaun und war es irgendwann leid, ihn immer wieder im Garten suchen zu müssen. Dad war sehr geduldig mit mir, schimpfte nicht und kritisierte mich kein einziges Mal, ja, er half mir sogar bei der Suche nach den von mir verschlagenen Bällen. Ein paarmal vermasselte er sogar absichtlich selbst etwas, aber das ärgerte mich nur noch mehr. Ich sah ihn noch vor mir in seinen kurzen weißen Tennisshorts, dem weißen Polohemd, den Sportsocken, die er am Bein immer viel zu hoch zog, was mir endlos peinlich war, selbst wenn ihn außer mir kein Mensch sah. Mein wunderbarer Dad …
Hier im Garten standen auch noch die gleichen Steinfiguren – ein rundliches Seniorenpärchen mit Gartenwerkzeug in den Händen –, mit denen mein Großvater, der Vater meines Dads, immer geredet hatte, bevor er gestorben war. Die Frau hatte er Mildred getauft und den Mann Tristan, ohne ersichtlichen Grund, aber ich musste schon als Kind darüber lachen. Mildred und Tristan waren Teil unserer Familie geworden. Da Mum sie offenbar nicht hatte wegbringen lassen, waren sie nun die einzigen Bewohner unseres Hauses. In der Nähe der Wäscheleine lag eine rote Wäscheklammer, ein Überbleibsel unserer letzten Wäsche.
Ich kletterte aufs Dach des kleinen Schwimmbads – es war der letzte Anbau gewesen –, wo wie immer die verwitterte Holzleiter lag, die ich dort für meine mitternächtlichen Ausflüge deponiert hatte. Der Pool war mit einer blauen Leinwandplane abgedeckt, unsere sechs Pool-Lounger mit den rosa Kissen lagen diagonal beim Fenster und warteten auf mich und meine morgendliche Schwimmrunde. Auf einer Sonnenliege entdeckte ich den – inzwischen reichlich schlaffen – Schwimmring in Flamingoform, den ich aus Marbella mitgebracht hatte. Manuel, ein Junge, den ich letztes Jahr dort geküsst hatte, hatte ihn mir geschenkt, also hatte ich ihn natürlich mit nach Hause genommen. Nun benutzte ihn niemand mehr. Ein weggeworfener Kuss.
Auf dem Dach angekommen, kletterte ich mit Hilfe der Leiter zu meinem Zimmer hinauf. Meine Balkontür war nie verriegelt, weil sie zu hoch oben und für Einbrecher angeblich unerreichbar war. Als ich mich über die Brüstung auf den Balkon schwang, schwirrte mir der Kopf. Hier an der Küste war es wesentlich kühler, die Seeluft war frisch, denn der Wind
Weitere Kostenlose Bücher