Ich sehe dein Geheimnis
meinen Gedanken erfahren. Bei ihr weiß man nie.«
»Du hast recht.« Er ließ den Kopf hängen. »Die ganze Sache ist wirklich schwer für mich. Ich fühle mich so … schuldig.«
Mein Herz schlug schneller. »Schuldig woran?«
»An Vickis Tod. Hätte ich sie nicht allein gelassen, dann hätte ich sie vielleicht retten können.«
Das Schuldgefühl des Überlebenden , dachte ich.
»Oder du wärst auch tot.« Ich wollte ihn unterstützen und das Richtige sagen, aber zugleich fragte ich mich, ob er die Wahrheit sagte. Und ich konnte kaum glauben, dass ich so über meinen Bruder dachte.
Ich sah einer Motte nach, die der hellen Verandalampe entgegen flog. Und hatte eine Idee. Das Adrenalin gab mir neue Energie.
Perry stand langsam auf. »Jedenfalls tut es mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich gehe jetzt ins Bett.«
»Warte.« Ich hielt ihn fest. »Du kannst es wieder gutmachen.«
»Wie denn?«
»Komm mit mir ins King’s Courtyard und versuche, in Victorias Zimmer mit ihr in Kontakt zu treten.«
Er wurde bleich.
»Sie kann dir vielleicht sagen, wer sie umgebracht hat, und dann ist dieser Albtraum endlich vorbei.«
Irgendwann gab Perry nach und kam mit. Kurz vor Mitternacht trafen wir im King’s Courtyard ein.
»Nur so nebenbei«, sagte Perry während der Autofahrt, »wie willst du in ihr Zimmer kommen?«
Ich grinste. »Ich habe meine Methoden.«
Wir parkten vor dem Büro, und ich bat Perry, im Auto zu warten. Ich hoffte, dass der gruselige Kerl vom letzten Mal auch heute Dienst hatte. Und tatsächlich, er war da und erkannte mich, als ich hereinkam.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er nervös.
Hoffentlich hielt er mich für eine Polizistin, schlie ßlich hatte er mich mit Gabriel am Tatort gesehen. Dann wäre alles einfacher als erwartet. Ich müsste weder meinen Augenaufschlag einsetzen noch mein Haar verführerisch zurückstreichen.
»Ich brauche noch einmal den Zimmerschlüssel.«
Er zögerte, als fiele ihm plötzlich ein, dass ich kein Recht dazu hatte.
Ich sprach lächelnd weiter und betete, dass er mir meine Nervosität nicht anmerkte. »Ich muss den Tatort reinigen, damit Sie endlich Ihr Zimmer zurückbekommen. Wie Sie schon sagten, die Mordfans werden richtig gut für dieses Zimmer zahlen.«
Das weckte seine Aufmerksamkeit. Und schon hielt ich den Schlüssel zu Zimmer 108 in Händen. Ich ging zurück zum Auto, wo Perry angespannt wartete.
»Hast du ihn?«
Ich ließ den Schlüssel vor seinem Gesicht baumeln. »Zweifle nie an deiner Schwester.«
Wir parkten ein paar Meter von Victorias Zimmer entfernt und vergewisserten uns, dass wir beim Hin eingehen nicht beobachtet wurden. Ich trat von einem Bein aufs andere und fühlte mich, als hätte ich drei Tassen Kaffee getrunken.
»Das gefällt mir nicht«, flüsterte Perry. Ich schloss die Tür hinter uns. Er tastete nach dem Lichtschalter, aber ich packte seine Hand.
»Was denn?«, fragte er.
»Wenn wir keinen Verdacht erregen wollen, sollten wir das Licht besser nicht einschalten.«
»Aber hier ist es dunkel. Und, du weißt schon … der Geist …«
»Wie alt bist du, acht? Durch die Vorhänge kommt genug Licht. Und seit wann hast du Angst vor Geistern? Es ist dein Job, mit ihnen zu sprechen!«
»Ja«, sagte er. »Seriöse Damen, die an Altersschwäche gestorben sind, nehmen Kontakt mit mir auf, weil sie ihren Enkelkindern von dem Geld erzählen wollen, das im Nähkorb versteckt ist. Aber doch nicht ermordete Mädchen, mit denen ich – du weißt schon – geschlafen habe!«
»Es gibt für alles ein erstes Mal.« Ich zwang ihn sanft, sich aufs Bett zu setzen.
Er sprang wieder auf. »Clare! Nicht hier! Hier wurde sie ermordet!«
»Psst! Sei leise.« Dann deutete ich auf einen Stuhl in der Ecke. »Na gut, setz dich dahin, konzentriere dich und lass uns das hier durchziehen, bevor wir erwischt werden.«
Er ließ sich auf den Stuhl sinken und schloss die Augen. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich schon tausend Mal gesehen. Mit gesenktem Kopf saß er da und atmete tief und langsam. Er machte kein Geräusch und bewegte sich nicht. Damit seine Gabe funktionierte, musste er hochkonzentriert sein, und das gelang ihm nur in völliger Stille.
Ich sah mich in dem abgedunkelten Zimmer um. Es lief mir kalt den Rücken hinunter. Wieder einmal war ich froh, nicht Perrys Gabe zu haben, sondern meine eigene.
Und doch hoffte ich, es gelänge ihm, sie zu kontaktieren. Vielleicht war alles wirklich so einfach. Sie würde uns erzählen, wer
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