Ich sehe dein Geheimnis
es getan hat, und dann wäre alles vorbei.
Perry richtete sich kerzengerade auf und öffnete die Augen.
»Ist sie hier?«, flüsterte ich.
Er hielt den Zeigefinger vor den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen. Sein Blick schweifte langsam durch den Raum und fixierte schließlich eine Ecke. Er stand auf und ging näher heran.
»Es tut mir leid, da-«, begann er und hielt dann inne, als sei er unterbrochen worden.
Es war, als lauschte ich einem Telefongespräch.
Perry bewegte sich weiter vorwärts und streckte flehend die Hände aus. »Warte, ich will dir nur ein paar Fragen stellen.«
Plötzlich weiteten sich seine Augen. »Das ist nicht wahr!« Er stolperte ein paar Schritte rückwärts. »Bitte, lass es mich erklären.«
Die Temperatur im Zimmer fiel ab. Ich konnte meinen Atem in der Luft sehen.
»Warte!«, rief Perry. Dann verließ ihn mit einem Mal alle Energie, als hätte jemand einen Stecker gezogen. Er sank zu Boden und zog die Knie an die Brust.
»Ist sie weg?«, fragte ich.
Er nickte. »Es ist egal. Sie will ohnehin nicht mit mir sprechen.«
Er sah mich traurig an. Es war derselbe Blick, mit dem er mich so oft als Kind angesehen hatte, wenn er aus Versehen eine meiner Spielsachen zerstört hatte. Ein Blick voller Reue, dem man leicht vergibt.
»Warum will sie nicht mit dir reden, Perry?«
»Weil sie behauptet, ich hätte sie getötet.«
Zwölf
Das war ja großartig gelaufen. Nie fühlt man sich behaglicher, als wenn der Geist eines Mordopfers sagt, dass der eigene Bruder sein Mörder ist. Ich hatte Perry in dem Glauben ins Motel gebracht, dass die Sache damit beendet und er von aller Schuld freigesprochen werden würde, dass er aus der Depression herauskäme, in die er abgeglitten war. Stattdessen hatte ich alles noch viel schlimmer gemacht.
Victoria hatte gesagt, er hätte sie umgebracht. Fantastisch. Noch etwas, das ich vor Justin und Gabriel geheim halten musste. Außerdem stand der normalerweise so ruhige Perry kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Immerhin hatte ich ihn überzeugen können, mit mir nach Hause zu fahren, statt sich weiterhin irgendwo vor Mom zu verstecken.
Am nächsten Tag wachte ich noch vor dem Weckerklingeln auf. Ich hätte aufstehen und duschen müssen, doch stattdessen starrte ich an die Zimmerdecke. Vor lauter Ungewissheit war ich wie benebelt. Was wäre, wenn Perrys seltsames Verhalten nicht aus dem Schuldgefühl des Überlebenden heraus entstand? Und was, wenn Victorias Behauptung, Perry hätte es getan, nicht nur eine Behauptung war? Was, wenn die Wahrheit mich förmlich anstarrte und ich trotzdem Perrys Version glaubte, ihn schützte? Einen Mörder schützte?
Meinen Bruder.
Der laute Klingelton meines Handys schreckte mich auf.
Ich nahm es vom Nachttisch. »Hallo?«, krächzte ich.
»Clare?«
»Ja? Justin?«
»Oh, das klang gar nicht nach dir.«
»So klinge ich, wenn ich zu früh geweckt werde«, sagte ich, obwohl mich das Klingeln ja gar nicht geweckt hatte.
»Furchterregend.« Er lachte. »Egal, steh auf. Du musst aufs Revier kommen.«
»Warum?«
»Sie haben Joel Martelli.«
»Victorias Exfreund?«
»Genau den.«
»Ich komme sofort.«
Ich wollte gerade aufstehen, als es erneut klingelte.
»Ja?«
»Noch etwas. Kannst du dich von deiner Mutter fahren lassen? Und sie mitbringen?«
Ich werde einfach nicht nachfragen. »Okay.«
Ich lief über den Flur zu Moms Zimmer und teilte ihr mit, dass ihre Anwesenheit auf dem Revier verlangt würde. Sie war entzückt. Nichts liebte sie mehr als das Gefühl, gebraucht zu werden.
Nach dem Duschen band ich meine wirren Locken zu einem Pferdeschwanz und zog eine lilafarbene ärmellose Bluse und einen hellbraunen Rock an. Ich wollte halbwegs professionell aussehen, aber in dieser Hitze auf keinen Fall Hosen tragen. Der lässige Rock erschien mir einigermaßen passend.
Als Mom und ich Richtung Polizeistation fuhren, kreisten meine Gedanken wieder um Perry. Am helllichten Tag verzogen sich die Zweifel in eine kleine dunkle Ecke meines Hirns und machten schwesterlicher Sorge Platz. Heute früh hatte er sich nicht blicken lassen, und als wir letzte Nacht nach Hause gekommen waren, hatte er nicht gut ausgesehen. Wer könnte das schon, nach allem, was geschehen ist. Ich fragte mich, ob er wohl schon wach war, aber ich wollte Mom nicht mit einer entsprechenden Frage beunruhigen. Wenn die Sorge um die Kinder eine olympische Disziplin wäre, hätte sie die Goldmedaille verdient. Da musste ich nicht noch einen
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