Ich sehe dein Geheimnis
völlig verwirrt. Ich hatte ihn nicht geküsst, um an das Video heranzukommen. Sondern weil ich es wollte. Meine Gefühle hatten mich überwältigt, und es war mir gelungen, den Gedanken an Tiffany für eine Weile zu verdrängen.
Doch das sollte er nicht wissen. Einen Moment lang war ich unvorsichtig gewesen, das war alles. Ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen.
»Ich will das Video sehen«, sagte ich stattdessen.
Er wandte sich ab und lehnte sich an das Geländer der Promenade. Ich starrte seinen Rücken an. Er schauderte, dann riss er sich zusammen und drehte sich zu mir um.
Ich hatte ihn verletzt. Und diesmal ziemlich stark. Ich bereute es jetzt schon.
»Das Video von der Überwachungskamera, das sie in eurem Haus gefunden haben?«, fragte er. »Was willst du damit? Selbst wenn du es vernichtest, könntest du Perry nicht helfen.«
»Ich will es nicht vernichten oder stehlen. Ich will es mir ansehen.«
E r dachte nach. »Du glaubst, jemand anderes könnt e darauf zu sehen sein. Der wahre Mörder.«
Ich nickte.
»Wie willst du ihn erkennen? Du kannst den Leuten zusehen, wie sie dort die ganze Nacht über ein und aus gehen, und wüsstest danach trotzdem nicht, wer der Mörder ist.«
»Oder ich sehe dort Victorias Freund Joel. Oder … jemand anderen.« Ich wollte ihm nichts von Nates Theorie erzählen, die Toscanos seien Mörder. Ich wollte ihm auch nicht sagen, dass ich Gabriels Tattoo gesehen hatte. Warum ich das nicht wollte, konnte ich mir selbst nicht erklären.
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Das Video könnte der Schlüssel sein.« Ich sah ihm in die Augen. Aus alter Gewohnheit legte ich ihm die Hand auf den Arm. »Wir könnten den Fall vielleicht lösen. Und deshalb bist du doch ursprünglich auf mich zugekommen. Das ist das Wichtigste für dich, oder?«
»Nein.« Sanft zog er den Arm weg. »Am wichtigsten wäre mir ehrlich gesagt, die Zeit zurückzudrehen und die Nacht mit Tiffany ungeschehen zu machen.«
»Ist das nicht ein wenig pathetisch, Justin?«
Er sah mich ernst an. »Ich habe dich verletzt. Ich liebe dich und ich habe dich verletzt. Selbst jetzt kann ich noch den Schmerz in deinen Augen sehen. Ich sehe ihn jedes Mal, wenn ich dir in die Augen schaue.« Seine Stimme wurde brüchig. »Nenn mich pathetisch, nenn mich wie du willst, aber es ist die Wahrheit.«
Genau das hatte ich in den vergangenen Monaten gewollt: ihn verletzen, sein schmerzverzerrtes Gesicht sehen, ihm heimzahlen, was er mir angetan hatte. Jetzt war es so weit, aber ich genoss es nicht. Schlagartig wurde mir klar: Ich wollte nicht, dass Justin litt.
Ich musste kurz daran denken, wie ich ihn monatelang verachtet hatte und verletzen wollte, egal wie oft er sich entschuldigt hatte. Dann verschwand die Erinnerung und zum ersten Mal empfand ich etwas anderes.
Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine.
»Ich verzeihe dir«, sagte ich.
Er sah mich hoffnungsvoll an.
»Ich kann nicht mit dir zusammen sein«, sagte ich schnell. »Aber ich verzeihe dir und ich glaube dir, dass du die Sache gerne rückgängig machen würdest. Und dass du mich nie verletzen wolltest.«
Er blinzelte und öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus.
» Ich sage das nicht nur, weil ich das Video will.« Und das stimmte. Anfangs hatte ich geplant, ihn zu manipulieren und seine Gefühle zu benutzen, um meinen Willen zu bekommen. Doch dann war alles, was ich tief in mir vergraben hatte, an die Oberfläche gekommen.
Viele Monate hatte ich versucht, ihn mit Worten und mit meiner Distanz zu verletzen. Ich hatte geglaubt, wenn ich ihm wehtäte, ginge es mir besser. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich mich nur heilen konnte, wenn ich ihm vergab. Er war schon genug bestraft worden. Vielleicht konnte ich nie eine Beziehung mit ihm führen, aber ich konnte mit ihm befreundet sein.
»Ich meine, was ich sage«, bekräftigte ich.
»Ich weiß«, antwortete er leise und drückte meine Hand.
Einundzwanzig
Ich war zu nervös, um auch nur einen Moment stillstehen zu können, weshalb ich im Büro des Bürgermeisters von einer Wand zur anderen lief. Dass ich Justin gestern an der Uferpromenade verziehen hatte, fühlte sich gut an. Es fühlte sich richtig an. Aber zugleich schämte ich mich dieser guten Gefühle, denn Victorias Mörder hatte ich immer noch nicht gefunden.
Justin war jetzt schon lange weg und hätte längst zurück sein müssen. Langsam machte ich mir Sorgen. Er hatte mir erzählt, wie er seinen Vater gestern Abend beim Essen
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