Ich sehe dich
Brüstung aufgestützt und seine Hände ineinandergefaltet. Es fehlte nur der Rosenkranz, und man wäre überzeugt gewesen, dass er still betete. Es konnte nur einen Grund geben, dass er auf ihre Theorie nicht reagierte: Er wollte nicht, dass sie die Spur weiterverfolgte, weil Ronnies Verdacht stimmte: Er war Tinis Liebhaber. Unwillkürlich rückte sie von ihm ab. Ihr war plötzlich unerträglich heiß. Sie öffnete den Lammfellmantel und zog ihre lila Mütze vom Kopf. Michael wandte seinen Blick vom Kanal ab und sah sie an. Es war ein langer, intensiver Blick, ein Blick, der durch sie hindurch, nein, in sie hinein sah und unter dem Sara sich nackt und unwohl fühlte. Ob er wusste, was sie dachte? Dass sie ihn …
»Ich glaube, du verrennst dich da in etwas.«
»Ach?«
»Wenn der vermeintliche Liebhaber und Spender Christina so sehr liebt, dass er für sie tötet, warum dann so, dass der Verdacht mehr oder weniger auf sie fallen muss ? Alibi hin oder her. Wenn er die Folterkammer kennt, dann weiß er genau, dass die Polizei früher oder später darauf stoßen wird. Warum erschlägt er ihn nicht einfach? Paul war Alkoholiker. Er hätte nachts in die Wohnung schleichen, ihn im Schlaf erschlagen und das Ganze wie Raubmord aussehen lassen können. Bei ein bis zwei Promille wäre das sicher einfacher gewesen als diese Giftnummer.«
Natürlich! Wie dumm sie doch war! Michael hatte Recht, ihre Theorie war nicht schlüssig.
»Bist du jetzt enttäuscht?«
»Nein.« Im Gegenteil! Sie versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen, und fragte schnell: »Hast du eine andere Idee?«
»Es muss mit dem Forum zusammenhängen. Der Mörder kennt die Folterkammer und die Frauen. Er weiß, wer was geschrieben hat, und er weiß, wo Anja und Christina wohnen. Also muss er entweder im Forum Zugang zu den Mitgliedsdaten haben oder … «
»Oder er ist ihnen in der Gesprächsrunde begegnet und hat es dort ausgekundschaftet.« Sara lehnte sich seitlich an das Geländer. »Sollten wir dann nicht eher von einer Mörderin sprechen?«
»Auf keinen Fall. Damit schränken wir unseren Blickwinkel ein.«
»Und das Motiv?«
»Rache? Ein Ablenkungsmanöver?« Michael zupfte einen Wollfussel von ihrem Mantel. »Ein Psychopath?«
»Ablenkungsmanöver? Du glaubst, jemand möchte mit einem Mord von einem anderen ablenken?«
»Warum nicht? Bringst du nur deinen Partner um, bist du verdächtig. Gibt es aber eine Serie … Was passiert dann?« Bevor sie seine Frage beantworten konnte, sprach er weiter. »Dann bist du entlastet. Die Chance davonzukommen erhöht sich. Vorausgesetzt, dir passieren keine Fehler.«
»Glaubst du, Anjas Alibi war einer?«, fragte Sara aufgeregt. Sobald der Mörder einen Fehler machte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er gefasst wurde, irgendwo hatte sie das mal gelesen.
»Könnte sein.« Michael verzog keine Miene. »Es könnte aber auch sein, dass er auf eine Serie hinweisen möchte. Denn jetzt wird der nächste Mord in einem anderen Licht betrachtet.«
»Oh Mann! Wenn das stimmt, das wäre … also, das wäre der Hammer. Dann wären Paul und Heiner erst der Anfang.« Sie schauderte. Paul als Kollateralschaden eines aufwendigen Mordplans? Unfassbar. Hatte Ronnie doch Recht, wenn er sie davon abhalten wollte, sich einzumischen?
Michael nickte bedächtig. »Wie gesagt, das ist nur ein mögliches Szenario. Wir werden uns die anderen auch ansehen.«
»Also, ehrlich gesagt, das Szenario ist doch erst mal egal«, unterbrach ihn Sara, »wichtig ist das Forum, es muss eine Verbindung dazu geben.«
»Absolut.« Michael lächelte sie zustimmend an.
»Wir müssen den Mörder irgendwie verunsichern … schocken! Weißt du, was ich meine? Wir müssen es wenigstens versuchen, die Polizei glaubt uns diese Theorie ohnehin nicht ohne Indizien. Wir können ihnen doch etwas unter die Arme greifen, oder?«
»Lass uns das mit dem Ablenkungsmanöver ins Forum stellen. Das ist ein Anfang. Und wir provozieren auf jeden Fall eine Reaktion.« Seine Miene wurde wieder ernst, als er fortfuhr. »Du kannst dich auf die letzte Gruppensession beziehen. Dadurch hast du eine viel bessere Chance, ernst genommen zu werden, als wenn die Polizei dort plötzlich unter einem Pseudonym auftritt. Es kennt dich doch keiner, hast du gesagt. Ich meine, deinen Nachnamen und deine Adresse.«
Er sah sie prüfend an. Sara glaubte, einen Anflug von Sorge in seinem Blick erkennen zu können. »Wie lautet deine
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