Weg!
»Sara?« Am zaghaften Klopfen erkannte sie, dass Ronnie seinen Auftritt bereute. »Tut mir leid, ich war … nervös. Du weißt schon, wegen Eleonor, und die OP morgen. Du weißt doch, wie ich vor so großen OPs oft bin.«
Hau ab!
»Komm schon, Sara.« Seine Finger trommelten sanft gegen die Tür. »Manchmal bin ich einfach ein Arsch. Ich mach’s wieder gut.«
Manchmal?
»Komm, lass uns Advent feiern. Für Jonas. Die Plätzchen sehen toll aus.«
Sie fuhr den Computer hoch.
Advent feiern? Jetzt? Glückliche Familie spielen?
Nein.
Seine Schritte entfernten sich, machten bei Jonas’ Zimmer halt. Und wenn sie ihn verließ? Mit Jonas ein neues Leben begann? Was passierte dann? Wovon sollte sie die Wohnung und den Fußballclub und den Klavierunterricht bezahlen? Sie müsste aus Neuhausen wegziehen, ihrem Lieblingsviertel mit den vielen kleinen Läden, Kneipen und Altbauten, mit der Nähe zu Kanal, Schloss und Innenstadt und dem besonderen Flair, einer Mischung aus Münchener Tradition und Freidenkertum, das sich die Vermieter teuer bezahlen ließen. Jonas müsste die Schule wechseln, wahrscheinlich auch seinen Sportverein, je nachdem, wo sie sich eine Wohnung leisten konnten.
Was willst du eigentlich? Einen Mann, der dich schlägt? Hartz IV?
War sie undankbar?
Sie hämmerte auf ihre Tastatur ein. In ihrer Mailbox war eine neue Nachricht. Von
[email protected]. Ihr Puls beschleunigte sich. Mit einem Klick öffnete sie die Mail.
Liebe Sara,
du kannst diese Mail-Adresse für das Forum nutzen. Das Passwort ist »christina11«. Für das Frauenwehr-Forum habe ich das gleiche Passwort verwendet, zusammen mit der neuen Mail-Adresse als Login. Frau Liebig hat erst gezögert, aber dann hat sie zugesagt, uns gleich freizuschalten. Aber bitte sei vorsichtig! Gib nichts preis, worüber man an deine Adresse gelangen könnte! Entschuldige, wenn das jetzt nach väterlicher Ermahnung klingt, aber ein Serienmord ist kein Spaß. Sobald wir eine Reaktion bekommen, schalten wir die Polizei ein – die wissen genau, was dann zu tun ist, und wir sollten sie ohnehin bald informieren. Wir agieren nur als Lockvogel aus sicherer Entfernung – nicht mehr, nicht weniger.
Lass uns morgen telefonieren.
Liebe Grüße Michael
Es geht los!
Sie rief das Frauenwehr-Forum auf und loggte sich ein. Sofort sah sie, dass der Mord an Heiner schon die Runde gemacht hatte. Gebannt scrollte sie durch die Einträge.
Dann klickte sie entschlossen auf Beitrag schreiben .
Hi,
ihr habt echt spannende Überlegungen zu dem letzten Mord aufgestellt. Zumal in der Gruppenstunde am Freitag die meisten überzeugt waren, dass Kathi und Christina ihre Männer selbst getötet haben. Jetzt stellt sich mir die Frage, ob nicht bei Christina auch ein Fremder seine Hand im Spiel hatte – denn wenn das bei Anja so war, warum dann nicht auch bei Christina?
Ich hätte sogar eine Theorie: Stellt euch vor, eine von uns möchte ihren Typen um die Ecke bringen und inszeniert diese Morde als Tarnung für den Mord am eigenen Mann …Wie viele müssten dann wohl noch daran glauben? Zwei? Drei? Sie hätte wahrscheinlich nicht mal ein schlechtes Gewissen, wahrscheinlich glaubt sie, sie tut uns einen Gefallen damit … eine Wohltäterin, sozusagen.
Selbst wenn meine Theorie nicht stimmt, der Täter kennt die Folterkammer – sollte uns das nicht zu denken geben?
Sara
Sie las ihren Beitrag durch, setzte den Cursor hinter das Wort sozusagen und fügte einen Absatz ein.
Heute ist in der SZ das Interview mit der Exfrau des Heckenschützen in den USA. Sie behauptet, sein Ziel war, sie umzubringen, die irrsinnige Mordserie ein Ablenkungsmanöver. Hätte man ihn nicht erwischt, wäre sie für die Polizei einfach ein weiteres sinnloses Opfer eines Verrückten gewesen.
Das müsste reichen. Mit der Hand auf der Maus verharrte sie über dem Button Abschicken und las sich den Beitrag ein drittes Mal durch. Etwas in ihr ließ sie zögern. Wusste sie, was sie tat? Brachte sie sich und ihre Familie in Gefahr?
Nein. Niemand wusste, wie sie hieß, wo sie wohnte, dass sie Tini kannte. Nur Valeska, aber die würde sie nicht verraten. Wo sollte die Gefahr lauern, solange sie vorsichtig agierte? Das war doch nur die typische Schwarzmalerei von Ronnie, um sie davon abzuhalten, etwas zu tun, was nicht er selbst vorgeschlagen und für gut befunden hatte. Außerdem hatte sie gar keine andere Wahl. Sie konnte nicht tatenlos bleiben, während Tini in Haft