Ich sehe dich
denen Christina wieder in Haft ist?«
»Gewissermaßen.«
»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte Ronnie und überflog die Seiten. Es war Maries Beitrag.
»Du hast selbst gesagt, du willst nichts damit zu tun haben.«
»Ich habe gesagt, ich will nicht, dass du dich einmischst. Du hast mich vor dem Anwalt wie einen Idioten dastehen lassen – ich wusste nicht mal, dass Christina wieder in Haft ist.«
»Ich wollte dir am Donnerstag von Tini erzählen, erinnerst du dich? Aber du hast blockiert, weil du wegen dem Showklettern am Samstag so sauer warst.« Sara beobachtete ihn. Falls die Erwähnung der Kletterveranstaltung, auf der sie gestern für einen Kollegen kurzfristig eingesprungen war, seinen Ärger wieder entfachte, so ließ er sich nichts anmerken. Er würde niemals verstehen, was das Klettern für sie bedeutete, dass sie sich am lebendigsten fühlte, wenn sie im Fels hing und nicht nur schier unüberwindbare Hindernisse, sondern auch ihre eigenen Ängste bezwang. Sie hatte Peter von Tini erzählt, als sie sich für ihren gemeinsamen Auftritt vorbereiteten, so wie sie Peter seit Jahren an fast allen wichtigen Ereignissen in ihrem Leben teilhaben ließ, wenn sie zusammen trainierten. Auch er hatte sie gewarnt, dass sie sich auf unbekanntes Terrain begab, dessen Gefahren sie nicht einschätzen konnte, aber er hatte ihr auch spontan seine Hilfe angeboten.
Ronnies Augen wanderten über Maries letzte Seite. »Wenn die ihre Fantasie so konsequent durchsetzt wie ihre Rechtschreibfehler, dann Gnade dem armen Kerl.«
Er legte die Blätter auf den Stapel zurück und ging zu der quer durch das Wohnzimmer gespannten Schnur, an der der Adventskalender hing. An Wäscheklammern baumelten vierundzwanzig kleine Jutesäckchen. Er nahm die Nummer vierzehn herunter und sah hinein.
»Was hältst du denn von der Sache?«
Ronnie trat einen Schritt zurück und rieb sich die Nase. »Fatal. Wie kann deine Schwester nur so bescheuert sein. Eine Mordfantasie öffentlich auszubreiten.«
»Das Forum ist nicht öffentlich. Wenn du da nichts Privates schreiben kannst, was soll dann das Ganze?«
»Internetist öffentlich. Das weiß jedes Kind.«
»Ok, denk, was du willst, die Sache ist eh gelaufen. Wichtig ist, dass wir jetzt endlich eine Spur haben.«
»Das dürfte dir wenig bringen.«
»Warum denn? Ich durchsuche gerade die Gruppenbeiträge nach Hinweisen.« Sara deutete auf den Stapel Papier. »Und dann ist da noch dieser Typ, der ihr das Geld geben wollte, vielleicht hatte sie eine Affäre.«
»Was macht eigentlich ein Anwalt amSonntag bei uns in der Küche? Christina ist doch nicht in der Todeszelle.«
»Er ist eben engagiert.«
»Das ist er bestimmt.« Ronnie verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. »Fragt sich nur, für was er sich wirklich engagiert …«
Sara strich mit den Fingern über den letzten Knick und stellte einen Papierfrosch auf den Tisch. Hoffentlich fing er jetzt nicht wieder an, sich über Michaels unangemeldeten Besuch auszulassen. »Er ist mit Tini befreundet.«
»Ah. Da kommen wir der Sache doch näher.« Ronnie machte einen Schritt auf Sara zu, hob seinen Arm und bewegte die Hand, als versuche er, ein Glöckchen zu läuten. »Kling Glöckchen klingeling. Hast du mal darüber nachgedacht, ob er der ominöse Liebhaber ist?«
»Glaub ich nicht.«
»Und wieso nicht?«
»Ich hab ihn gefragt.«
»Und er hat es verneint. Was hast du erwartet? Soll er sich als geiler Bock outen, der von Pauls Tod profitiert? Glaub mir, da läuft was, ich hab ein Gespür für so was.« Er tippte sich an die Nase und strich dann den Nasenrücken entlang. »Du wirst schon sehen.«
Sara hatte keine Lust, weiter über Seitz zu diskutieren. Sollte Ronnie doch denken, was er wollte. Sie klopfte neben sich aufs Sofa. »Setz dich. Ich lese dir die Fantasie von Anja Grossmann vor, der Frau des letzten Opfers.«
Mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck blieb Ronnie neben dem Sofa stehen. »Ich höre.«
»Wie gesagt, die ist von Anja. Sie ist von ihrem Mann anonym so lange verfolgt und bedroht worden, bis sie psychisch krank wurde. Ich glaube, sie bekam eine Angstneurose, auf jeden Fall war sie völlig am Ende und verlor ihren Job und ihre Freunde. Erst seit sie weiß, dass der Stalker ihr Mann war, geht sie wieder unter Menschen.« Sie räusperte sich und fing an zu lesen:
Eines Abends werde ich bei ihm läuten. Er wird aufmachen, in seinen abgetragenen Joggingklamotten, die er abends immer gegen seinen schicken Anzug
Weitere Kostenlose Bücher