Ich sehe dich
KulturLaden getroffen hatte, war ihr aufgefallen, wie liebevoll manche der Fassaden saniert worden waren, wie viele neue Bars und Restaurants in dem ehemaligen Scherbenviertel eröffnet hatten. Natürlich gab es auch zahlreiche Fassaden, die nicht nur wegen der Graffitis einen neuen Anstrich verdient hätten, aber gerade dieser Gegensatz machte den eigentümlichen Charme des Viertels aus. Mit einer Bäckertüte in der Hand folgte sie Michael in die Küche.
»Brezel gegen Kaffee?«
»Guter Tausch.« Michael nahm ihr die Tüte ab. »Darauf hab ich schon seit sechs einen Jiper. Seitdem sitze ich nämlich über den Forumsbeiträgen.« Er deutete auf mehrere niedrige Stapel Papier auf dem Küchentisch. »Du hast da ganz schön eingeheizt. Die Frage ist nur, ob es uns was bringt.«
Sara trat an den Tisch, fuhr mit der Hand über die Papierstapel und begann schließlich, die obersten Seiten zu lesen. »Du hast die Beiträge geordnet?«
»Ja, nach Brauchbarkeit. Die meisten sind völlig wertlos.«
Sie hörte, wie er eine Schublade aufzog, mit Töpfen hantierte und schließlich den Wasserhahn aufdrehte. »Meine Kaffeemaschine ist kaputt. Trinkst du türkischen Kaffee?«
Ohne die Augen von dem Text zu lösen, nickte sie. »Mit viel Milch, bitte.«
Michael schob einen Stuhl hinter sie und drückte sie sanft darauf. Bei seiner Berührung schoss ihr das Blut in den Kopf. »Setz dich.«
Während er Tassen, Teller und Butter auf den Tisch stellte, überflog sie den ersten Stapel der Ausdrucke.
»Autsch. Psychopathische Zicke … hirnkrank … total gestört …« Sara räusperte sich. »Hör dir mal das an: Was erdreistet sich diese psychopathische Zicke? Wer ist diese hirnkranke Sara überhaupt? Ein total gestörter Neuzugang, der ausgerechnet nach drei unnatürlichen Todesfällen zu uns stößt und uns schwupdiwups unter Generalverdacht stellt? Wenn sie uns für so gefährlich hält, sollte sie besser auf sich aufpassen … oder lieber auf ihren Mann … Wenn ich die Mörderin wäre, würde ich ihr das Maul stopfen …« Sie merkte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. »Versucht die, mich zu diskreditieren, oder will sie mir Angst machen?«
Michael sah sie besorgt an.
»Wahrscheinlich beides. Das ist nicht der einzige Beitrag in dem … äh … Tonfall.« Er nahm die Seiten, die er gelb markiert hatte, und reichte sie Sara. »Angriff ist die beste Verteidigung. Wenn du als unglaubwürdig disqualifiziert wirst, entkräftet das deine Theorie. Ich würde als Täter so vorgehen.«
Michael setzte sich neben sie und rückte seinen Stuhl eng an ihren. Als er sich nach vorne beugte, um die erste Seite anzuheben, streifte seine Schulter die ihre und blieb daran hängen. Angestrengt versuchte sie, sich auf den Text zu konzentrieren, aber sie musste einzelne Sätze immer wieder neu lesen.
Plötzlich läutete es.
Sara sah auf. Michael warf einen Blick auf seine Uhr. Er schien überrascht zu sein.
»Viertel vor neun? Das ist selbst für die Post zu früh.« Mit einem Ruck schob er den Stuhl zurück und ging zur Wohnungstür. Sie hörte, wie er die Gegensprechanlage bediente. »Ja?«
Nach einer kurzen Pause sprach er wieder. »Kommen Sie hoch. Hinterhof, vierter Stock.«
Michael erschien in der Küchentür. Zwischen seinen Augen hatte sich eine steile Falte gebildet. »KriminAlbolizei. Was wollen die denn?«
»Kripo? Glaubst du … Noch einer?« Ihre Stimme war brüchig.
Michael zuckte mit den Schultern und ging wieder zur Wohnungstür.
Sara sah ihm nach. Unschlüssig stand sie auf, schlich um den Tisch herum und lehnte sich an den Türrahmen. Gespannt lauschte sie den Stimmen aus dem Wohnzimmer. Sie vernahm jedes Wort laut und deutlich. Durch die Türöffnung beobachtete sie Michael, der mit dem Rücken zu ihr stand, und die unangemeldeten Besucher. Zwei Männer. Der Ältere trug eine Lederjacke und hatte ausgeprägte Geheimratsecken. Das musste Hauptkommissar König sein, von dem Michael erzählt hatte. Der andere, deutlich jünger als sein Kollege, trug eine ärmellose Weste über einem Wollpullover und hielt einen Block in der Hand. Sara erkannte ihn sofort wieder. Franz Behringer, der junge Kripobeamte, der sie vor knapp einer Woche über Tini ausgefragt und dabei akribisch alles notiert hatte. Er stand mit gezücktem Stift neben dem Älteren und musterte Michael, während Hauptkommissar König sprach.
»Herr Seitz, hat Frau Christina Denk am Mittwoch, den 15. Oktober bei Ihnen übernachtet?«
Saras Atem
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