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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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der nach außen so starken Valeska, die sie gestern noch gewesen war, nichts mehr gemein. Das schwarze Haar stand nach allen Seiten ab, die Augen waren geschwollen und hatten dunkle Ringe. Mit beiden Händen schüttete Lydia sich Wasser ins Gesicht und trocknete es mit den billigen Papiertüchern ab. Sie fuhr mit den Händen durch ihre struwwelige Frisur, legte Lippenstift auf und öffnete die Tür zur Gaststube. Wieder überprüfte sie den Raum.
    Er war noch immer fast leer. Nur zwei junge Mütter saßen mit ihren Kindern auf dem Schoß an einem Fenstertisch und tranken Tee.
    An der Theke bestellte Lydia einen doppelten Espresso. Sie musste klar denken. Wie würde er agieren? Was könnte sein nächster Schritt sein? Mechanisch rührte sie zwei Löffel Zucker in ihren Espresso. So hatte er seinen auch getrunken. Sie ließ bei dem Gedanken den Löffel los, als würde er brennen.
    Wie hat es nur so weit kommen können? Dabei habe ich ihn so geliebt. Seine Ruhe. Seine Verletztheit. Das war es, was mich so angezogen hat, diese verwundete Seele, die nach Liebe schrie und jede freundliche Geste gierig in sich aufsog. Wie stark und überlegen ich mich gefühlt habe, wie naiv ich die langsame Veränderung seines Verhaltens ignoriert habe.
    Auch er hat mich geliebt. Auf seine Weise, anfangs hingebungsvoll, später, nach der Hochzeit immer besitzergreifender. Nur zu ihm sollte ich gehören, er und ich gegen den Rest der Welt. Ein Kind wollte er, einen Sohn. Freunde hatten kein Platz mehr in unserer Beziehung, selbst Kollegen und oberflächliche Bekanntschaften sah er bereits als Bedrohung seiner Position. Und ich habe ihn ausgelacht und getan, was ich wollte. Oh Gott, ist das lange her. Fast sieben Jahre. Wie dumm und einfältig ich gewesen bin, damals, mit knapp zwanzig. Ich hätte studieren können, mir eine Zukunft aufbauen, anstatt den nächstbesten Bürojob anzunehmen. Aber das war nicht interessant. Feiern, trinken, Spaß haben. Ja, das hat gezählt. Sonst nichts.
    Als er nicht mehr mit mir um die Häuser zog, fing er an, mir nachzuspionieren. Melanie hat ihn dabei ertappt. Und ich? Ich fand es lustig, ja, ich habe mich sogar geschmeichelt gefühlt, bin blind auf den Abgrund zugerannt, immer schneller, je näher ich ihm kam. Bis die Katastrophe nicht mehr zu stoppen war …
    Ich bin mit Sven unterwegs, es ist lustig, wie immer. Ich habe vorsorglich nicht Bescheid gesagt, um zu verhindern, dass er uns nachschleicht, nur eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen, eine lausige Lüge auf einem geduldigen Band. Doch dann öffne ich die Wohnungstür, und er sitzt da. Auf einem Küchenstuhl. Im Gang. Den Blick starr auf mich gerichtet.
    »Wo warst du?« Es ist fast ein Flüstern, und doch trifft mich jedes Wort wie ein Peitschenhieb.
    »Mit Maria um die Häuser.« Hastig ziehe ich meinen Mantel aus und hänge ihn an die Garderobe. Ich ahne nicht, was kommen wird. Noch bin ich aufgedreht von der Discomusik.
    »Maria? Sie war zu Hause.« Er sitzt stocksteif auf dem alten Stuhl, seine Lippen bewegt er kaum beim Sprechen, nur seine Finger, er drückt sie nach innen, bis die Gelenke knacken.
    »Ja … äh … sie ist früher heim. Ihr … ihr ging es nicht so gut.«
    »Maria war den ganzen Abend zu Hause. Sie hatte Gäste.« Seine Stimme ist gefährlich leise. Mir läuft kalter Schweiß den Rücken hinunter. Hat er mich mit Sven gesehen?
    »Ach, die Maria meinst du!« Panisch suche ich nach einer Ausrede. Zögere zu lange. »Mit der bin ich nicht mehr so dicke. Nein, ich war mit Maria aus dem Schreibbüro unterwegs.«
    »Martha. Eva. Andrea.« Er kommt einen Schritt auf mich zu. »Die Tippsen heißen Martha, Eva und Andrea.« Jetzt steht er genau vor mir. Ich spüre seinen warmen Atem, und zum ersten Mal sehe ich die Kälte in seinen blauen Augen. Ich habe Angst. Aber sie ist nicht groß genug. Ich weiß noch nicht, wie groß sie sein muss, um mein Leben zu retten.
    »Ich meinte Martha, bin ja auch zu blöd.« Ich kichere nervös, bin froh, dass er mir eine Hintertür geöffnet hat. Es wird gutgehen.
    »Die Martha, die seit drei Wochen im Krankenhaus liegt?«
    Ich bemerke das Flackern in seinen Augen, doch es ist bereits zu spät. Sein Kopf schießt nach vorne. Ich spüre einen dumpfen Schmerz. Den Geschmack von Blut auf meinen Lippen.
    »Au! Bist du bescheuert? Meine Nase! Du hast meine Nase gebrochen!« Blut tropft auf den Fliesenboden.
    »Nur die Nase?«Er zieht seine Faust durch. Trifft mein Jochbein. Benommen taumle

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