Ich sehe dich
Valeskas Pfefferspray im Anschlag. Noch bevor sie die Düse betätigen konnte, schlug der Mann ihren Arm nach rechts weg und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie. Eine zischende Wolke entwich dem Spray, dann fiel die Dose mit einem Keckern auf den Boden und kullerte davon.
»Au! Lassen Sie mich los!«
Jetzt erkannte Sara Hauptkommissar König. Ihn hatte sie hier nicht erwartet. Sie spürte, wie eine Welle der Erleichterung sie durchflutete.
»Sind Sie völlig übergeschnappt?« Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
»Ich dachte, sie wären … Tut mir leid, ich … ich …« Sie strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und hoffte, dass er ihre Nervosität nicht bemerkte.
»Wer dachten Sie denn, dass ich bin?« Sie sah das Misstrauen in seinen Augen und verwünschte ihre alberne Überreaktion. Wie sonst sollte er reagieren, wenn er unvermittelt mit Pfefferspray angegriffen wurde.
»Ich … ich weiß nicht. Nicht Sie. Ich bin froh, dass Sie … also, dass Sie es sind, also dass Siegekommen sind und nicht er.«
»Und wer ist er?« König unterbrach ihr Gestammel mit einer ungeduldigen Geste. »Hat er auch einen Namen?«
»Ich dachte, Sie sind Valeskas Mann.« Sie schauderte.
»Valeska Liebig, nehme ich an. Ist sie hier?«
»Nein. Sie ist verschwunden. Sie war eben noch hier«, Sara schnippte mit den Fingern und ihre Stimme war plötzlich belegt, »und dann war sie weg.«
»Plötzlich war sie weg. Soso.« Er betrachtete sie zweifelnd. »Für wie blöd halten Sie mich eigentlich?«
»Ich … Wieso?« Sie spürte, wie er sie beobachtete, wurde sich plötzlich bewusst, dass ihre Augen die Tür fixierten, ihre Arme in Abwehrhaltung vor ihrer Brust verschränkt waren, ihre Hände zittrig die Oberarme auf und ab fuhren. Sie lockerte ihre Haltung und zwang sich, die Tür zu ignorieren.
»Zum Beispiel, weil Sie mir gestern früh eine Lüge aufgetischt haben.«
Sara glaubte, sich verhört zu haben. Eine Lüge?
»Haben Sie das nicht gelernt? Lügen haben kurze Beine. Jedes Kind weiß das. Ich komme gerade von Ihnen zu Hause.« Er machte eine kurze Pause.
Er hatte mit Ronnie gesprochen? Was um Himmels willen musste er ihm erzählt haben, dass König glaubte, sie habe gelogen?
»Ihr Mann behauptet, dass Sie am Freitag bei der Weihnachtsfeier von Ihrem Kletterclub waren. Den ganzen Abend.« Er holte den Notizblock seines Kollegen hervor und blätterte darin herum. »Lassen Sie mich sehen. Sie sagten, Sie seien erst bei Frauenwehr und dann mit Herrn Seitz zusammen gewesen. Solche Diskrepanzen finde ich immer sehr aufschlussreich. Wie heißt es noch? Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.«
»Bei mir zu Hause? Sie haben mit Ronnie gesprochen?« Sie brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande.
»Ihr Mann war eben in dem Glauben, Sie würden Ihren Sohn vom Fußball abholen.« Er blickte sich suchend um. »Ich sehe ihn nirgends.«
»Was haben Sie ihm erzählt?« Ihre Finger krallten sich in die Wolle des Pullovers. Sie hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde und mehrere Frauen ins Gespräch vertieft in den Veranstaltungssaal gingen. Jemand klopfte an die geöffnete Tür.
Petras Kopf erschien im Türrahmen. Als sie Sara und König sah, runzelte sie die Stirn. »Sara? Ist Valeska nicht da?«
»Nein, Petra. Sie ist nicht da.«
König ging zur Tür, zeigte seinen Ausweis. »Würden Sie bitte einen Moment draußen warten. Ich habe noch mit Frau Neuberg zu tun.«
Er schloss die Tür mit Nachdruck, so dass Valeskas Parka am Türhaken hin und her schwenkte. Er schlenderte zu ihr zurück, als wolle er seine Antwort bewusst verzögern. »Nun, ich habe Ihrem Mann die Wahrheit gesagt. Was sonst. Dass ich Sie bei Herrn Seitz getroffen habe und dass Sie ihm ein Alibi für Freitagabend gegeben haben. Er schien sehr überrascht zu sein.«
Er hatte Ronnie von ihr und Michael erzählt? Was bildete er sich ein? Konnte er sich nicht denken, dass ein Ehemann so etwas in den falschen Hals bekam? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Wie sollte sie Ronnie das erklären? »Warum haben Sie meinen Mann da mit hineingezogen?«
»Hineingezogen?« Er lächelte wissend. »In was hineingezogen, Frau Neuberg?«
»In diese ganze Sache, er will damit nichts zu tun haben. Er denkt, es ist zu gefährlich, auf eigene Faust zu ermitteln. Deshalb habe ich ihn ja angelogen!«
»Ermitteln? Sie?« Er lachte auf und wurde sofort wieder bitterernst. »Wenn überhaupt, behindern Sie meine
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